Am 30. Oktober 1961 wurde zwischen Deutschland und der Türkei ein Anwerbeabkommen vereinbart, das den Beginn der türkischen Zuwanderung nach Deutschland bedeutete. Heute umfasst die Bevölkerungsgruppe der türkeistämmigen Migrant*innen sowie ihrer Nachkommen 2,5 bis 2,8 Mio. Personen. Es war der vierte Vertrag dieser Art, mit welchen das Nachkriegsdeutschland den Bedarf an Arbeitskräften decken wollte. Es folgten weitere Abkommen. Ab Ende der 1950er Jahre bis zum „Anwerbestopp“ 1973 kamen ca. 14 Millionen „Gastarbeiter*innen“, in erster Linie aus verschiedenen südeuropäischen Ländern wie Spanien, Italien, Griechenland usw. Rund 3 Millionen blieben hier.
Im Rahmen dieser Entwicklungen profitierte auch Regensburg von der Arbeitskraft aus dem Ausland. So stieg die Anzahl an Migrant*innen aus den Ländern der Abkommen kontinuierlich im Laufe der Jahrzehnte. Lag der Anteil der „Gastarbeiter*innen“ und ihrer Familien Anfang der 1970er noch im unteren einstelligen Prozentbereich, bilden sie heute einen großen Teil der Bevölkerung mit sog. Migrationshintergrund. Aus ihnen und ihren Nachkommen wurden reguläre Arbeitnehmer*innen, Schüler*innen, Rentner*innen, Politiker*innen u.v.m.
Aufgrund der früher weitverbreiteten Vorstellung, es würde sich um temporäre Arbeitsmigration handeln, wurde auf die Bedürfnisse der Menschen jedoch in keiner Weise eingegangen. Das Thema Integration war nicht relevant und wurde erst viel zu spät als wichtiges gesamtgesellschaftliches Politikfeld erkannt. Hinzu kamen bis heute bestehende Diskriminierungen und Barrieren in Bereichen wie dem Arbeitsmarkt, der Bildung, schlechte Wohnverhältnisse usw.
Um diese Situation zu ändern, haben sich viele jener Migrant*innen für höhere Löhne, bessere Bildungschancen für ihre Kinder oder für die politische Teilhabe insbesondere auf kommunaler Ebene eingesetzt. Auch die Gründung der ersten Ausländerbeiräte (die ursprünglichen Integrationsbeiräte) in den 1970ern sind als Folge der damaligen Bestrebungen entstanden. In Regensburg wurde nach jahrelangen Vorarbeiten Anfang der 1990er Jahre ein Ausländerbeirat eingerichtet.
Der Integrationsbeirat möchte den zentralen Beitrag aller „Gastarbeiter*innen“ und derer Nachkommen zum wirtschaftlichen Wohlstand des Landes sowie zur Weiterentwicklung der Gesellschaft in Richtung eines modernen Einwanderungslandes anerkennen und würdigen. Diese Anerkennung sollte aber nicht nur symbolisch sein, sondern sich rechtlich, politisch und gesellschaftlich zeigen. Wir kritisieren, dass, im Unterschied zu den EU-Bürger_innen, die einstigen Migrant*innen aus der Türkei immer noch weder ein kommunales Wahlrecht noch einen uneingeschränkten Anspruch auf eine doppelte Staatsbürgerschaft haben. Hinzu kommt das weiterhin bestehende Problem der Familienzusammenführungen.
Doch nicht nur auf institutioneller Ebene erfahren sie Diskriminierung. In Erfahrungen von Alltagsrassismus, über Anfeindungen bis hin zu rechtsterroristischen Anschlägen sind sie antimuslimischem Rassismus ausgesetzt. Wir als Integrationsbeirat der Stadt Regensburg wenden uns gegen jegliche Ausgrenzung auf gesellschaftlicher und politischer Ebene und fordern Gleichberechtigung in allen Bereichen.
Gedanken von Nurdogan Cetinkaya, Integrationsbeiratsmitglied, zu 60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei:
„Es ist unglaublich, dass die ersten, sog. „Gastarbeiter“ aus der Türkei und auch meine Eltern vor 60 Jahren nach Deutschland als Arbeitskräfte angeworben wurden. Die Betonung liegt auf angeworben. Mittlerweile leben wir hier schon in der 4. oder gar in der 5. Generation in diesem Land. Sind Freundinnen und Freunde, Nachbar*innen, Kolleg*innen, Mitschüler*innen, Kamerad*innen in einem Verein, Mitkämpfer*in und Mitstreiter*in für gemeinsame Belange, Mitleidende und sogar Verwandte, weil unsere Kinder miteinander geheiratet haben. Eigentlich aus der Gesellschaft nicht mehr wegzudenken.
Meine Eltern, meine Familie und ich, vor allem die erste Generation, wurden von vielen Alteingesessenen als Fremde empfunden und nicht als Mitmenschen in der Gesellschaft anerkannt. Als angeworbene Arbeitskräfte nur gut genug für schmutzige, gefährliche, schlecht bezahlte Arbeiten, die man den Deutschen nicht zumuten wollte, hatten und haben sie doch einen großen Anteil am heutigen Wohlstand der deutschen Gesellschaft.
Im Alltag schlug ihnen oft Verachtung entgegen und sie wurden als Menschen zweiter Klasse angesehen und von ihnen Unterwürfigkeit erwartet. Sie sollten arbeiten, waren in Wohnheimen untergebracht, sollten sich fremd fühlen und immer fremd bleiben. Vielerorts entlud sich Rassismus und Hass z.B. in Brandanschlägen und Gewalt wie in Schwandorf, Solingen, Mölln und kürzlich mit einem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau.
Wie schon Max Frisch sagte: „Wir haben Arbeitskräfte geholt, und Menschen sind gekommen.“
Diese Menschen wurden gesellschaftlich und politisch sich selbst überlassen. Die Türkei war froh, ihre arbeitslosen Jugendlichen los geworden zu sein und hoffte langfristig auf Devisen und war an Integration, gar an einem Ankommen und sich in Deutschland heimisch Fühlen der sog. Almanci gar nicht interessiert. Weil es befürchtete, damit die Devisenbringer zu verlieren. Sie waren gezwungen, sich selbst zu organisieren und sogar Integrationsarbeit zu betreiben. Sie engagierten sich in zivilgesellschaftlichen Vereinen, gründeten eigene Vereine und waren auch an Arbeitskämpfen der Gewerkschaften beteiligt.
Als Folge dieses Bestrebens und des Kampfes für Beteiligung und Teilhabe kann man die Einrichtung der heutigen Ausländer-/Integrationsbeiräte, der Ausländer-/Migrantenausschüsse in den Gewerkschaften oder sonstige Vertretungen nennen. Natürlich fand auch ein „kultureller“ Austausch statt und wir haben die „deutsche“ Gesellschaft mitgeprägt und bereichert und wurden auch selbst von ihr geprägt und bereichert.
Die deutsche Politik und Gesellschaft muss sich endlich eingestehen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und diese Menschen, wir, ein untrennbarer Teil dieser Gesellschaft sind und in allen Belangen geleichberechtigte Teilhabe ihr, unser, Grundrecht ist. Denn heute sind nicht nur Menschen aus der Türkei, sondern Menschen aus der ganzen Welt in allen Bereichen der deutschen Gesellschaft vertreten, erfolgreich und unverzichtbar, prägen und bereichern sie.
Mit Bedauern stellen wir fest, dass die deutsche Gesellschaft und Politik nichts aus den vergangenen Fehlern gelernt hat. Denn dieselben Muster wiederholen sich heute gegenüber Arbeiter_innen in der Baubrache, in der Landwirtschaft, der Fleischindustrie, den sog. Saisonarbeiter_innen und den Geflüchteten.
Leider gehört Rassismus, Diskriminierung, Ausgrenzung und Hass immer noch zu unserem Alltag. Um diese zu bekämpfen und um ein Miteinander auf Augenhöhe zu erreichen, muss sich Diversität, Partizipation und eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz politisch und gesellschaftlich in allen Belangen niederschlagen. Aus gegebenem Anlass des Jahrestags auf eine gemeinsame Zukunft auf Augenhöhe.“
gez.
Dennise Okenve
Vorsitzende