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Maiempfang 2024

- Es gilt das gesprochene Wort -

Rede von Oberbürgermeisterin Gertrud Maltz-Schwarzfischer anlässlich des Maiempfangs 2024 am Dienstag, 30. April 2024, 20 Uhr, im Historischen Reichssaal 

 

Anrede

Ihnen allen ein herzliches Willkommen zu unserem diesjährigen Maiempfang. 

Seit 1980 folgt unsere Stadt dieser besonderen Tradition – ein Empfang für Sie - sehr verehrte Betriebs- und Personalräte, Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Hier, im Historischen Reichsaal unseres Alten Rathauses ehren wir heute ebenso die Idee der Sozialpartnerschaft wie den Dialog über Gerechtigkeit und gute Arbeitsbedingungen.

Gerne beziehe ich mich in meiner Rede auf das diesjährige Motto der Mai-Kundgebungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes:

„Mehr Lohn! Mehr Freizeit! Mehr Sicherheit!“

Und ich kann Ihr Engagement für diese drei Forderungen unterschreiben.

„Mehr Lohn! Mehr Freizeit! Mehr Sicherheit!“

Gerade in den niedrigeren Lohnstufen drückte die Inflation der letzten beiden Jahre die Kaufkraft empfindlich. Dazu kommt, dass sich der Arbeitsmarkt von einem Arbeitgebermarkt zu einem Arbeitnehmermarkt gedreht hat. Der Fachkräftemangel hat alle Branchen erreicht. Unternehmen steigern die Attraktivität ihrer Arbeitsplätze durch attraktive Lohnzahlungen und – immer häufiger – durch individuelle Arbeitszeitmodelle. Immer öfter ­schlägt Freizeit Gehalt.

Als dritte Forderung steht zum Maifeiertag 2024 „Sicherheit“ auf den Transparenten des DGB. Hier beziehen Sie sich darauf, dass sich immer mehr Unternehmen aus der Verantwortung stehlen und versuchen, tarifrechtliche Bindungen zu umgehen. Für sichere Arbeitsplätze fordern Sie eine „Tarifwende“. Damit prekäre Arbeitsverhältnisse in unserem Land endlich der Vergangenheit angehören, machen Sie sich für eine höhere Tarifbindung stark. Gut so!

Als Oberbürgermeisterin einer der größten Städte Bayerns möchte ich heute auf Ihre Forderung nach „Mehr Freizeit!“ eingehen.

Das Thema Freizeit beschäftigt mich, weil ich als Vertreterin des Gemeinwesens Stadt den ganzen Menschen sehe. Dieser Mensch wächst auf und lernt, er absolviert eine Lehre oder studiert, ergreift einen Beruf, geht vielleicht eine Partnerschaft ein und bekommt Kinder.

Dieser Mensch leistet häufig im Lauf seines Lebens Care-Arbeit, sei es für die Kleinen oder für die Älteren, engagiert sich im Elternbeirat oder in der Bürgerinitiative, im Verein, der Partei oder Gewerkschaft. Er braucht ein Einkommen, ein Auskommen, Sicherheit und einen Sinn, damit es ihm gut geht.

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er braucht Anregung und Menschen, mit denen er sich austauscht, denen er in Frieden, Freundschaft und Wohlwollen begegnet, Freude teilt, diskutiert, streitet ohne Hass. – Zu all dem braucht er Zeit – freie Zeit – Frei-Zeit. 

Der Begriff der Freizeit spielte bereits in der deutschen und österreichischen Arbeiterbewegung des frühen 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle in der Definition von Arbeiterrechten. Ein Grund für die ab etwa 1850 fortschreitende Verkürzung der Arbeitszeit war der gesundheitlich äußerst bedenkliche Zustand der arbeitenden Bevölkerung, die teilweise bis zu 16 Stunden in Bergbau und Industrie schuftete. Weil durch die zunehmende Automatisierung der Produktion der Bedarf an menschlichen Arbeitskräften sank, propagierten die Gewerkschaften bereits 1860 den Acht-Stunden-Tag.

Heute wissen wir, dass es bis dahin noch ein weiter Weg war. ­Einzig die Buchdrucker – hoch gebildet und qualifiziert – arbeiteten seit 1873 nur noch zehn Stunden täglich.

Der moderne Freizeitbegriff bildete sich zunächst im Umfeld der Pädagogik heraus.

Doch auch Karl Marx leitete sich aus Georg Wilhelm Friedrich Hegels Dialektik von Notwendigkeit und Freiheit in der Mitte des 19. Jahrhunderts den Zusammenhang von Arbeit und Freizeit ab. In der Freizeit erkannte er den (ich zitiere) „großen Wert für die Emanzipation des Menschen, für die Wiedergewinnung der Menschlichkeit“ nach der Entfremdung im arbeitsteiligen Produktionsprozess.

Hier nun setzt – historisch gesehen – der Freizeitbegriff der Arbeiterbewegung an. Seit 1908 brauchten Frauen nur noch zehn Stunden täglich zu arbeiten und 1918 wurde die 48-Stunden-Woche eingeführt. In fast allen Betriebsstätten folgte die Bayer AG 1931 mit der 40-Stunden-Woche.

Die gewonnene Freizeit rückte zunehmend ins Bewusstsein der Arbeiterschaft. Jetzt wurde Freizeit in Abgrenzung zur Arbeitszeit für alle ein Begriff.

Im Jahre 1930 prophezeite der Ökonom John Maynard Keynes, dass wir im Jahr 2030 nur noch 15 Wochenstunden arbeiten müssten, um gut leben zu können.

In sechs Jahren wäre es soweit. Keynes Prophezeiung klingt heute wie ein schönes Märchen, aber in Bezug auf die Produktivitätsentwicklung lag der Wirtschaftswissenschaftler richtig: Einer regelmäßig in den USA wiederholten Umfrage zufolge gaben die befragten Personen 1950 an, dass für ein auskömmliches Leben 68 Prozent des damals mittleren Einkommens ausreichen würden. 1980 war dieser Wert weiter gesunken und lag nur noch bei 53 Prozent.

Die Arbeitszeiten sanken und es schien, als würden die Menschen die so gewonnene Zeit lieber in nichtwirtschaftliche Aktivitäten investieren, statt länger zu arbeiten. Allerdings hielt dieser Trend nicht an, sondern verkehrte sich in sein Gegenteil.

Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahre 2022 stiegen die Arbeitszeiten seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wieder. Als mögliche Erklärung ist in der Zusammenfassung dieser Untersuchung zu lesen: Die Mittelschicht eifere den Konsumnormen der Reichen nach und opfere dafür Freizeit. Sie verausgabe sich, um etwa im Rennen um gute Bildung und gute Wohngegenden mitzuhalten.

Ganz anders dagegen die unteren Einkommensgruppen. Diese gäben eher auf, weil sie keine Chance erkennen, die Kluft zu den Einkommen der Wohlhabenderen einzuholen. – Eine ziemlich ernüchternde Bilanz, finde ich.

Die einen opfern wertvolle Freizeit, die anderen wollen nicht noch mehr arbeiten, weil es ihnen – so ihr Eindruck – sowieso nichts bringt.

Hoffnungsvoller dagegen stimmt eine 2023 von der Universität Cambridge und dem Boston College vorgelegte Studie über die Vorteile der vier Tage-Woche. Um das Ergebnis der Versuchsreihe vorwegzunehmen: 56 der 61 teilnehmenden Betriebe wollten das Vier-Arbeitstage-Zeitmodell beibehalten. Es hatte sich gezeigt, dass die Zahl der Fehltage signifikant sank, ebenso wie die Fluktuation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auch in Sachen Produktivität gab es eine Überraschung. Nicht nur, dass die Produktivität nicht sank, sie stieg sogar leicht an. – Diese Studie macht Mut.

Auch die Stadt Regensburg ist Arbeitgeberin. 4.300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus rund 50 Nationen arbeiten in ungefähr 50 Ämtern und mehr als 100 Berufen.

Ich selbst weiß, dass nicht überall alles geht. Doch ich glaube, dass die nachkommende Generation an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr Flexibilität und auch mehr Zeit für Privates einfordert.

Wie herausfordernd der Weg zu mehr Freizeit für Wirtschaft und Gesellschaft sein wird, merken auch wir als Kommune. Vier-Tage-Woche, Sabbatjahre, Freiräume für gemeinwohlorientierte Tätigkeiten ohne Risiko des Jobverlusts – sind Themen, mit denen wir uns beschäftigen müssen.

Auch um uns als Stadtgesellschaft entwickeln zu können, brauchen wir die freie Zeit von Bürgerinnen und Bürgern: Für Bildung, Kultur, ein gutes Miteinander, soziales, politisches und bürgerschaftliches Engagement brauchen berufstätige Menschen freie Zeit.

Erst vor Kurzem erschien Frank Walter Steinmeiers Buch „WIR“. In dieser Buchveröffentlichung macht sich der Bundespräsident auf die Suche nach dem Kitt, der Deutschland zusammenhält. Anlässe sind 35 Jahre Fall der Berliner Mauer und 75 Jahre Grundgesetz, also entscheidende Meilensteine in der jüngeren deutschen Geschichte, Momente, auf die wir stolz sein können, Momente, die verbinden.

Allerdings, warnt Steinmeier davor, dieses Jubiläum in allzu großer Selbstzufriedenheit zu feiern, zu fragil sei der Zustand der Demokratie geworden. Unseren Alltag begleiten Hass und Demokratieverachtung. Rechtsextreme Gedanken sind salonfähig geworden, Gemeinschaftssinn hat in gewissen Kreisen keinen guten Ruf. Da heißt es: „Der andere macht das ja auch nicht, warum soll ich …“

Das Deutschland, das Steinmeier beschreibt, bekommt keine gute Note, aber der Bundespräsident skizziert einen Ausweg. Er wirbt für die Anstrengung gemeinschaftlichen Handelns, aus dem politische Kraft erwächst. – Dem kann ich mich nur anschließen.

Das neue Wir ist das einer vielgestaltigen Gesellschaft. Es liegt an uns, zu entdecken, was uns, die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, verbindet.

Auch für diese Erkenntnis, diese Selbstvergewisserung, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, brauchen Menschen Zeit. Für ihre Menschlichkeit brauchen Menschen Zeit, denn im Hamsterrad denkt jeder und jede nur an sich. Da ist keine Zeit für Austausch, für Begegnung, für Diskussion und für die Annäherung unterschiedlicher Positionen.

Was Bundespräsident Frank Walter Steinmeier für Deutschland herausarbeitet, gilt ebenso für Regensburg und Europa.

Bezogen auf Regensburg, möchte ich daran erinnern, dass unsere Stadt für gemeinschaftliches Handeln vielfältige Möglichkeiten bietet. Seit 2022 finden Bürgerinnen und Bürger am Kassiansplatz (noch bis Ende Juli 2024) und in der Daimlerstraße Räume für Engagement. Anfang 2025 wird es Räume für Vereine im Schreiberhaus in Stadtamhof geben. In Königswiesen investiert die Stadt in ein neues Jugendzentrum mit Räumen und Angeboten für Jugendliche und Familien, weil Begegnung und Austausch neben Zeit auch Räume brauchen. 

Wer sich ehrenamtlich einbringt, wird den Wert des Gemeinsamen und die gemeinsamen Werte schnell erkennen. Um gemeinsame Werte geht es ebenso, bei Europa. – Denken Sie daran und gehen Sie am 9. Juni zur Wahl. Europa braucht Ihre Stimme und Ihr Engagement für Frieden und Demokratie. Wählen Sie das Miteinander, die Menschlichkeit und das Füreinander-Einstehen. Das ist das beste Mittel gegen Fremdenhass und rechtsextreme Positionen.

Ein weiteres Thema steht am 9. Juni in unserer Stadt zur Abstimmung. Regensburgerinnen und Regensburg werden gefragt: „Sind Sie dafür, dass die Stadt Regensburg die Planungen für eine Stadtbahn fortsetzt?" Wir wollen weiter über das zentrale Mobilitätsprojekt für Regensburgs Zukunft diskutieren – für bestmögliche Verbindungen in unserer Stadt.

Demokratie ist das Ringen um die besten Lösungen. Wahlen und Bürgerentscheide sind wichtige Instrumente im demokratischen Prozess. Nutzen Sie sie und nehmen Sie sich Zeit, um zu diskutieren, wichtige gesellschaftliche Themen zu durchdringen und ihre eigene Wahl zu treffen. – Mit diesem Appell, beende ich meine Rede zum heutigen Maiempfang der Stadt Regensburg, unterstütze Ihre Forderung nach „Mehr Lohn! Mehr Freizeit! Mehr Sicherheit!“ und übergebe das Wort an Christian Dietl, dem Regionsvorsitzenden des Kreisverbandes Regensburg des DGB.

Vielen herzlichen Dank für ihre Aufmerksamkeit.