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Verleihung des Brückenpreises 2019 - Rede von Dr. Carolin Emcke

Rede von Dr. phil. Carolin Emcke anlässlich der Verleihung des Brückenpreises am 2. November 2019 im Reichssaal des Alten Rathauses

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrte Frau Maltz-Schwarzfischer, liebe Aleida Assmann, 
meine Damen und Herren,

1. 

ich danke Ihnen sehr für diesen schönen Preis.

In die Freude über eine solche Ehrung mischt sich stets die Skepsis, ob das eigene Schreiben wirklich eine solche Auszeichnung verdienen kann. Das Werk meiner Vorgänger ging weit über das hinaus. Sie waren Brückenbauer in ganz anderem Sinn, sie haben in Zeiten der dogmatischen Polarisierung, der ideologischen Feindschaft ganze Staaten zur dialogischen Öffnung gebracht, sie haben totalitäre Regime durch ihre Dissidenz aufgebrochen und dann in die Freiheit geleitet, sie haben in Momenten der gewaltförmigen Sprachlosigkeit vermittelt und Friedfertigkeit nicht als Utopie, sondern als reale Rettung ermöglicht. Sie haben nicht nur im Feld des konkret Politischen gewirkt, sondern, nun ja, tatsächlich etwas bewirkt.

Dagegen nimmt sich die Verleihung des Brückenpreises an eine lediglich schreibende Publizistin, noch dazu eine, die vermutlich fast halb so alt ist wie die bisherigen Preisträger, wie eine mutige Disruption der Tradition aus.

Für diese Aufwertung des Worts, des geschriebenen oder gesprochenen Worts, für Ihren Glauben an die welterschließende Kraft der Sprache danke ich Ihnen. In einer Gegenwart, in der wir eher die zerstörerische Wucht, eher die verletzende, beschädigende, nötigende, manipulative Art der Rede erleben, in Zeiten, in denen die Rhetorik der Diffamierung und Stigmatisierung zum stolzen Insignium vieler geworden ist, in denen das Vokabular für das Menschliche permanent lächerlich gemacht wird, in Zeiten wie diesen danke ich Ihnen für Ihren Glauben an die verständigungsorientierte Sprache.

Ich danke Ihnen auch noch aus einem ganz persönlichen Grund: Wenn man, wie ich, vornehmlich über Strukturen der Ausgrenzung und Gewalt schreibt, wenn man sich aufmacht in die Gegenden aus Tod und Zerstörung in der Ferne oder auch nur in die Gegenden aus Hass und Verachtung hier bei uns in der Nähe, wenn man sich ursprünglich nur eines vorgenommen hatte, mit dem, was einem gegeben ist, einzustehen für die, die ausgeschlossen sind – dann geht einem manchmal auch die Kraft aus.

Ich gebe zu, seit dem Anschlag von Halle habe ich erstmals etwas gespürt, wozu ich eigentlich nicht neige: tiefe Niedergeschlagenheit. Nicht bloß wegen des Anschlags selbst (das war, leider, zu erwarten, damit mussten alle, die die letzten Jahre erlebt haben, rechnen). Sondern wegen dieser kurzlebigen und mitunter wirklich unangemessen verharmlosenden Reaktionen – eine Woche ausgestelltes Entsetzen und Erstaunen, und dann wieder diese Gleichmut, die sich nur leisten kann, wer nicht Angst haben muss auf der Straße, wer keine Kippa trägt und kein Kopftuch, wer nicht als "Kanake" oder "Gesindel" oder "Schwuchtel" oder als irgendwie "anders", als "nicht von hier" wahrgenommen wird.

Ich muss zugeben, mir geht zwischendurch auch die Kraft aus im Angesicht all der Anfeindungen, denen die, die versuchen sich leise, aber bestimmt dieser Welle aus Niedertracht entgegenzustellen, ausgesetzt sind. Wir werden beschimpft, handschriftlich per Post oder digital, wir werden bedroht, direkt oder indirekt, wir finden unsere Namen und Adressen auf Feindeslisten wieder, die den Titel tragen "Wir kriegen Euch alle", und die die Ermittlungsbehörden für nur "abstrakt" bedrohlich halten.

Darüber spricht man eigentlich nicht. Das soll nicht wehleidig klingen. Ich bin beschützter und privilegierter als viele andere da draußen. Aber wenn ich hier heute Dank sage, dann kann ich nicht verhehlen, dass mich dieser Preis wirklich freut und mir eben auch wirklich wohltut.

Ich danke Ihnen!

2.

Nun habe ich mich natürlich gefragt, warum das Brückenbauen bisher bei Ihnen als eine rein männliche Tätigkeit wahrgenommen wurde, musste dann aber zerknirscht zugeben, dass ich tatsächlich nicht wusste, was das eigentlich heißt: Brücken zu bauen. Und so habe ich begonnen, über Brückenbaukunst zu lesen. Für eine promovierte Philosophin erschließt sich das ja nicht sofort.

Zunächst habe ich gelernt, die verschiedenen Sorten von Brücken zu unterscheiden: also "Balken"-Brücken, "Hänge"-Brücken und "Bogen“-Brücken. Dann wollte ich verstehen, wie sie konstruiert werden und welche Elemente welche Funktion erfüllen. Also nicht nur die naheliegenden Teile der Fahrplatte, Kragarme, Querträger oder Kappen des Überbaus, sondern auch die des Unterbaus, die die Lasten aufnehmen und weiterleiten in die Gründung.

Wenn der Begriff der "Brücke" als Metapher verwandt wird, wie bei diesem Preis, so bezieht sich das Bild zumeist auf den Überbau, die Brücke, die eine soziale Verbindung stiftet, die etwas, was als unpassierbar gilt, eine politische oder religiöse Schwelle überschreiten hilft.

Wenn von "Brückenbauen" als Metapher die Rede ist, dann ist die Assoziation meist beschränkt auf das Herstellen von etwas (Vertrauen, Wissen, Einfühlung, Gewaltlosigkeit), das eine Trennung zwischen Personen oder Gruppen, Ideologien oder Dogmen überwinden hilft. Aber die Phantasie der Brücke verleitet uns gern darin nur dieses obere Stück, nur den begehbaren Weg zur anderen Seite als entscheidend wahrzunehmen. Wir denken und assoziieren weniger all jene Elemente, die es braucht, damit das Ganze auch steht, hängt, trägt und hält.

Wer Schwellen der Ausgrenzung, Grenzen der Empathie überwinden will, muss oft erst einmal die Schwellen selbst beschreiben, die Untiefen, die Risse, die die einen von den anderen trennen. Manche Menschen gelten so wenig, manche Menschen zählen so wenig, dass nicht einmal auffällt, wie sie ausgeschlossen werden.

Wer sich den Konfliktlinien einer Gesellschaft zuwenden will, muss oft genug erst sichtbar machen, dass es sie überhaupt gibt. Erst dann lässt sich darüber nachdenken, wie sie überbrückt werden können.

Wer schreibt oder spricht, muss sich fragen, wann es eher luftige Konstruktionen braucht, wie die Seile und Pylonen einer Hängebrücke, wann utopische Vorgriffe nötig sind, wann Erzählungen, die das Noch-Nicht imaginieren helfen (im Moment wäre das ein plurales, demokratisches, solidarisches Europa, das sich wieder auf das Versprechen der französischen Revolution besinnt und gleichzeitig eben noch gerechter, noch inklusiver, noch freier sein will als bisher)

und

wann es eher darum geht, die modrigen Pfeiler, an denen allerlei zersetzende Kräfte nagen, wieder zu stabilisieren (im Moment wären das die existentiellen Normen der Verständigung, der Respekt vor der menschlichen Würde, aber auch die Anerkennung des demokratischen Rechtsstaat).

Je mehr ich über die Baukunst von Brücken las, desto mehr hinreißende Details entdeckte ich: Die "Steinerne Brücke" hier in Regensburg beispielsweise ist keineswegs gradlinig gebaut, sie passt sich den Bodenverhältnissen an und reagiert auf den Strömungsverlauf. Auch sind die Pfeiler, wie ich gelernt habe, nicht alle im gleichen Abstand zueinander gesetzt und unterschiedlich dick. Ein anderes wundervolles Detail sind die Bruchsteine, die die Quader aus Grünsandstein und Donaukalkstein hinterfüllen und sie stützen.

Je mehr ich las, umso mehr gefielen mir auch die eher übersehenen oder unbeachteten Teile von Brücken. Also eben nicht die elegant-geschwungenen Seile einer Hängebrücke, sondern die Elemente des Unterbaus mit meinem besonderen Liebling: dem Widerlager.

Das Widerlager hält das Ende des Überbaus einer Brücke und überträgt die vertikalen oder auch horizontalen Kräfte aus dem Brückenüberbau in den Grund. Gleichzeitig sammelt es die Erddruckkräfte und sichert den Erddamm in seiner Lage.

Warum mir das so gefällt?

Nun, weil

  • denjenigen, die Grenzen überwinden,
  • denjenigen, die Menschenverachtung und Gewalt gegenüber irgendeinem konstruierten Anderen durchbrechen wollen,
  • denjenigen, die religiöse, kulturelle, sexuelle Vielfalt schlicht für die condition humaine halten,

gern vorgeworfen wird, sie seien abgehoben oder entwurzelt, im antisemitischen oder homophoben Jargon heißt das dann gern, wir seien "kosmopolitisch" oder "elitär".

Es wird gern unterstellt, es könne nicht wirklich christlich sein, wer sich für die Rechte der anders Frömmigen einsetzt,

es wird gern unterstellt, es könne nicht wirklich in dieser Gesellschaft verankert sein, wer sie offen und liberal und solidarisch halten möchte,

es wird gern unterstellt, es müsse "abgehoben" sein, wer sich für die Rechte von Migrantinnen und Migranten einsetzt.

Das Gegenteil ist der Fall:

  • Diejenigen, die nicht zugehen können auf Andere,
  • diejenigen, die jede Form der Andersartigkeit sofort als Gefahr denunzieren, diejenigen, die gegen Menschen hetzen, die anders glauben, anders lieben oder anders aussehen,
  • diejenigen, die unsere Geschichte umschreiben wollen, die alles Leid, alle Verbrechen retouchieren wollen, weil sie nicht aushalten können, dass man ein Erbe als Ganzes sich aneignen muss

– sie sind es, die nicht verankert sind in dem Grund der eigenen Identität.

Wer sich seiner Geschichte bewusst ist, wer die eigenen Praktiken und Überzeugungen selbstbewusst zu leben weiß, (wer verankert ist wie das Widerlager), kann auch auf andere zugehen (und die Kräfte aus dem Überbau in den Grund leiten).

Vielleicht ist es das, was ich Ihnen hier heute sagen möchte:

  • Wir sollten aufhören, so zu tun, als sei Verständigung schwer,
  • wir sollten aufhören, so zu tun, als seien Hass und Verachtung natürlicher oder auch nur leichter als Höflichkeit und Gastfreundschaft,
  • wir sollten aufhören, so zu tun, als sei Respekt eine Zumutung und keine Selbstverständlichkeit,
  • wir sollten aufhören, so zu tun, als sei es eine Schande, sich durch die Prinzipien des Grundgesetzes leiten zu lassen,
  • wir sollten vielleicht auch aufhören, zu glauben, dass das Brückenbauen etwas wäre, das einzelne Figuren ganz allein vermochten, als bräuchte es dazu nicht endlos viele Personen, die alle zusammen die Lasten tragen und verteilen, als bräuchte es nicht die augenfälligen und die weniger augenfälligen Elemente, die großen Bogen wie die stabilen Widerlager bis hin zu den kleinen Bruchsteinen.

Als ein solcher Bruchstein sage ich Ihnen heute Dank.