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Verleihung des Brückenpreises 2019 - Laudatio von Prof. Dr. Aleida Assmann

Laudatio von Prof. i.R. Dr. Dr. h.c. Aleida Assmann anlässlich der Verleihung des Brückenpreises an Dr. phil. Carolin Emcke

- Es gilt das gesprochene Wort -

Zur Person:

Carolin Emcke ist eine Philosophin, die ihre Lehrjahre in London und Frankfurt verbracht hat und dort, wie sie schreibt, in der alten ‚Habermas-Clique’ ihre Freunde und kommunikative Lebensform fand. Axel Honneth und Seyla Benhabib waren ihre akademischen Lehrer. Mit ihrem Thema Kollektive Identitäten reagierte sie unmittelbar auf die neue Situation des Multikulturalismus der 1990er Jahre. Das Buch, das 1998 im Campus Verlag erschien, wurde 2010 wiederaufgelegt und ist weiterhin hochaktuell. Sie entwirft darin eine spannungsvolle Typologie zwischen selbstbestimmten und fremdbestimmten Identitäten. Die ersteren entstehen durch Bestätigung eines kollektiven Selbstbildes, das durch Identifikation mit den Werten einer Gruppe entsteht, die letzteren durch rigide Festlegungen und Projektionen, die von außen an die Gruppe herangetragen werden. Das Interesse, das sich dann durch alle ihre weiteren Schriften zieht, ist hier bereits klar und deutlich ausgesprochen. Es geht ihr um den Schutz des einzelnen verletzlichen Menschen und ein Ethos der Demokratie, das von gegenseitiger Anerkennung, der Freiheit zur Differenz und einem Ethos der Angstfreiheit getragen ist.

In der Tradition weiblicher Intelligenz

Soweit klingt Carolin Emckes Biographie noch wie ein akademisches Curriculum Vitae. Die Lehrjahre an der Uni waren aber nur eine kurze Station in ihrem Leben. Es folgten vier Jahre des Reisens, in denen sie als Journalistin für den Spiegel unterwegs war und  ihren „besonderen Blick auf die kriegsbedingte Zerstörung an den Rändern der Welt“ richtete, wo der Krieg ihr „Lebensgefährte“ wurde und sich „die Grenzen zwischen Normalem und Abnormalen verwischen“.  (Von den Kriegen, 13, 41) Was sie in dieser Zeit erlebte, hat sie auch in persönlichen Briefen an ihre Freunde weitergegeben, die 2004 als Buch erschienen. Sie hat sich dieser Realität  radikal ausgesetzt, um das Leiden anderer zu betrachten, und das Wissen und Gewissen über die Opfer des Krieges und der Ausbeutung in der westlichen Welt wachzuhalten.

Carolin Emckes besonderer Denkstil ist von Sehen, Fühlen und Handeln nicht zu trennen. Er zeigt sich in einem ebenso schonungslos wie gewissenhaften Blick aufs Detail und der verantwortlichen Sorge um die Aufrechterhaltung von Mitmenschlichkeit. Für mich steht sie in einer großen Tradition weiblicher Intelligenz, die durch Namen wie Hannah Arendt, Susan Sontag, Elaine Scarry, Nancy Frazer oder Judith Butler markiert ist. Diese Tradition entdeckt sie aber auch  jenseits von Philosophie und sozialpolitischen Diskursen in Literatur und Kunst. Letztes Jahr konnte ich in Frankfurt eine Rede von ihr hören über Christian Petzolds Film Transit, in der sie uns mit großer Liebe und ebenso großem Ernst die Arbeit dieses Regisseurs nahebrachte. Mit Jan Assmann teilt Carolin die Liebe zur Oper, mit mir teilt sie die Liebe zu amerikanischen Autoren wie zum Beispiel der Roman des schwarzen Bürgerrechtskämpfers Ralph Ellisons Invisible Man oder das einmalige Buch der jungen weißen Autorin der Südstaaten Carson McCullers, The Heart is a lonely Hunter – beides hoch poetische Bücher, in denen die Hoffnung auf freie Lebensformen und individuelle Selbstverwirklichung durch Rassenschranken, Missachtung und Gewalt zunichte gemacht wird.

Empathie – ein Thema, das uns verbindet

Carolin und ich haben auch ein gemeinsames Thema, und das ist die Empathie. Das erste, was ich von ihr las, waren ihre regelmäßigen Kolumnen in der Süddeutschen Zeitung. In einer solchen Kolumne habe ich den folgenden Satz gefunden und zum Motto eines eigenen Textes gemacht:

„Wer nur das Trennende sucht, erkennt das Gemeinsame nicht mehr. Wer nur in kulturellen oder religiösen Differenzen denkt, entdeckt die politischen oder humanistischen Ähnlichkeiten nicht mehr.“

Dieser wichtige Gedanke steht schon in ihrer Dissertation, die mit diesem Zitat von Anthony Appiah endet:

„Die Identitäten, die wir brauchen, müssen sowohl die Bedeutung der Differenz innerhalb menschlicher Identität als auch die fundamentale moralische Einheit der Menschheit würdigen.“ (343)

Der Begriff der ‚Empathie’ ist erst an der Millenniumswende durch neue bildgebende Verfahren in der Hirnforschung in den allgemeinen Diskurs zurückgekehrt. Die Neurowissenschaftler haben nämlich nachgewiesen, dass Menschen von der Evolution von Anfang an für Empathie programmiert sind. Kleine Kinder sind bereits in der Lage, die Absichten anderer zu verstehen und deshalb können sie später auch effektiv mit anderen kooperieren. Empathie ist das, was uns befähigt, uns den Erfahrungen anderer zuzuwenden und uns für sie einzusetzen. Wer die Möglichkeit dieses wichtigen Brückenschlags verbietet und einen Diskurs vorschreibt, „in dem langfristig und ausschließlich nur die eigenen Bedürfnisse, die eigenen Perspektiven, die eigenen Interessen artikuliert werden dürfen“ (Ja, 52), der leugnet  zwei grundmenschliche Fähigkeiten: Empathie und Neugier.

„Ohne die Fähigkeit und Möglichkeit des Nachdenkens jenseits der eigenen Bedürfnisse, jenseits der eigenen Gruppe, Klasse, Lebensform, ohne das Entwickeln von Begriffen und Vergleichen zwischen unterschiedlichen Erfahrungen kann keine Gerechtigkeit, keine Anerkennung, keine Freiheit gedacht werden.“ (Ja, 57)

Leider ist die Empathie aber, was seltener erwähnt wird, auch ein Schalter, den Menschen bewusst an- und abschalten können. Es müssen also auch kulturelle Normen und Rahmenbedingungen hinzukommen, damit sich Menschen für und nicht gegen empathisches Handeln entscheiden. Eine ausschließliche Betonung von Differenz steht empathischem Handeln deshalb massiv im Wege. Hier spielt Carolin Emckes Kategorie der ‚Ähnlichkeit’ eine wichtige Rolle.

Die Qualität der Ähnlichkeit kann ganz verschiedene Formen annehmen; entscheidend ist dabei aber immer die Anerkennung der Ähnlichkeit des gemeinsamen Menschseins durch alle trennenden Differenzmarkierungen hindurch. Sie hebt die existierenden Unterschiede in keiner Weise auf, ermöglicht aber neue Formen der Kommunikation über bestehende Schranken hinweg. Dabei erweitert sie den Blick über die von Kulturen, Klassen und Gruppen eng gezogenen Schranken und Identitätsgrenzen hinaus. Die Entdeckung solcher unvermuteter Ähnlichkeiten wiedersteht dem Druck der Differenz, um paradoxe Handlungen, überraschende Interventionen und spontane Allianzen zu ermöglichen, die unerwartet Bewegung in das rigide Muster distanzierender und trennender Differenz bringen. 

Ähnlichkeit in diesem Sinne beruht nicht auf vorausgehenden Gleichsetzungen, Analogien oder anderen Festlegungen, sondern entsteht in einer kritischen Situation aus performativen Akten des Sich Anders in Beziehung Setzens und des Brücken Schlagens über Abgründe der Differenz, wobei die Differenz zwar ein Stück weit abgebaut aber keineswegs verneint wird. Nochmal Emcke: „Es gibt auch wechselnde Allianzen, wechselnde Gemeinsamkeiten, wechselnde Unterschiede und Differenzen für jede einzelne Person“ (Ja, 57). Differenz und Ähnlichkeit dürfen deshalb nicht als Merkmale einer Identitätspolitik missbraucht werden, die gegenseitige Feindbilder festigt und zur Grundlage der Bestimmung des Eigenen macht. Sie sollten vielmehr als neue Perspektiven verstanden werden, in denen sich Beziehungen zwischen Menschen und Gruppen verändern und  Trennendes abgebaut werden kann. 

Gegen den Hass

Brücken schlagen über Abgründe der Differenz – damit sind wir schon beim Heiligen Nepomuk und dem Thema dieser Preisverleihung in der Stadt mit der wunderbaren renovierten mittelalterlichen Steinbrücke. Wie dieses Brückenschlagen im einzelnen aussehen kann, hat Carolin Emcke in einem weiteren Buch mit dem Titel  Gegen den Hass ausführlich gezeigt. Sie beschränkt sich dabei nicht auf eine Beschreibung dessen, was Hass ist und wie er sich artikuliert, sondern sie untersucht im Detail , wie er gemacht wird und was man gegen ihn tun kann. Sie verbindet somit die Diagnose mit der Therapie, den scharfen Blick mit Möglichkeiten der praktischen Intervention. Kann man lernen, zu enthassen, sich der Komplizenschaft des Hasses zu entwinden und den Hass zu überwinden? Emckes Rezept ist eigentlich ganz einfach: indem man konsequent den Weg von der Mitmenschlichkeit zum Hass wieder zurückgeht. Wenn Hass durch fraglose Gewissheit, radikale Einschränkung der Wahrnehmung, Unkonkretheit und die Verwandlung von Menschen in Stereotypen entsteht, dann vergeht er durch Zweifeln, genaues Hinsehen, Differenzierung und den Blick auf Menschen als konkrete Individuen. Diese Umperspektivierung braucht Phantasie und spielerische Intuition, Humor und Empathie. Sie ist aber nur möglich, wenn auch entlernt wird, was der Hass in langfristiger und zäher Kleinarbeit in den Köpfen und Herzen der Menschen angerichtet hat. Das setzt voraus, schreibt Carolin,

„all die Verknüpfungen, die über Jahre und Jahrzehnte eingeübten begrifflichen und bildlichen Verkrümmungen und Stigmatisierungen zu unterbrechen. All die Muster der Wahrnehmung, die Raster, in denen Individuen zu Kollektiven und die Kollektive mit Eigenschaften und pejorativen Zuschreibungen verkoppelt werden, zu unterwandern.“ (211)

Vom Schreibtisch zur Bühne

Die meisten Autoren und Intellektuellen sind Beobachter, die die Welt von anonymen und gesicherten Positionen aus beschreiben. Das ist bei Carolin Emcke anders. Sie schreibt barfuß, um nicht in Konventionen abzugleiten und ist stets als Betrachterin mit im Bild. Sie sagt: „Ich als homosexuelle Frau“ (Ja, 21 und 60), um Position zu beziehen und sich einzumischen. Sie braucht die Distanz am Schreibtisch zum Denken und um ihre klugen Analysen, Kommentare und Glossen zu schreiben, die von Monat zu Monat sehnlichst erwartet werden. „Kritiker und Kritikerinnen“, so lese ich zustimmend in einem Artikel von Antonia Baum, „müssen nicht neutral sein und sind es bisher zu keinem Zeitpunkt gewesen.“[1] Carolin setzt sich darüber hinaus aber auch in Szene, denn neben Schreibtisch und Reisen ist ein weiterer produktiver Ort ihres Schaffens die Bühne des Theaters geworden.

Beispiele dafür, wie sie das Theater als öffentlichen Raum zugänglich gemacht hat für drängende Fragen der Demokratie, der Politik, und des gesellschaftlichen Miteinander, sind das Theater Hannover mit ihrer Reihe ABC der Demokratie und der von ihr seit 15 Jahren moderierte  Streitraum in der Schaubühne, wo nicht gestritten, aber sehr klug analysiert und von mehreren Perspektiven aus kritisch zusammengedacht wird.

Die Rolle der Gesprächspartnerin und Regisseurin beim Sym-Philosophieren hat sie inzwischen erweitert durch die der Solo-Schauspieler-Autorin, die als Protagonistin in einer neuen Form des Gedanken-Dramas auftritt. Der Auftritt Ja heisst ja und ..., der in der Schaubühne begann und mit großem Erfolg auf anderen deutschen Bühnen fortgesetzt wurde, ist ihr Beitrag zur #metoo-Debatte über ‚Macht , Sexualität und häusliche Gewalt’. Emcke hat hier nicht nur ein neues  Auftritts-Format erfunden, in dem die Betrachterin körperlich präsent ist und spricht, sich den Blicken aussetzt, sowie zwischen Nähe und Ferne, Schutz und Ausgesetztsein, Intimität und Öffentlichkeit vermittelt. Die Autorin hat hier auch zu einer neuen Form der Prosa gefunden: das vor sich hin Murmeln, das langsame Entwickeln von Gedanken zu dem Tabu-Thema, das Suchen, Prüfen und Finden von Worten als Verstehenshilfe und Verständigungsangebot, das aus der Sprach- und Machtlosigkeit des Schweigens einerseits und den verfestigten Formeln und Begriffen andererseits herausführt. Diese Prosa ist luzide, weil sie eigene Denk-Barrieren überwindet, indem sie jede Windung des Denkens, Tastens, Assoziierens ausleuchtet. Sie ist auch poetisch, weil sie wie eine Fuge hier und da zu einem Crescendo und Tutti ansetzt, in dem kollektive Emotionen aufgerufen und zur Selbstermächtigung gebündelt werden wie in der großartigen Litanei: „Niemand soll sich schämen“ (87). Wir wissen alle: die Angst ist kein guter Ratgeber. Von Carolin Emcke lernen wir dagegen, dass der Zweifel ein guter Impulsgeber sein kann, weil er nicht lockerlässt und auf dem „unübersichtlichen Gelände des Nein-Sagens“ immer neue Möglichkeitsräume auftut.

Zeugen und Bezeugen

Carolin Emcke ist keine Cassandra, die warnend in die Zukunft blickt wie Greta Thunberg, sondern eine Hinschauerin, die im Hier und Jetzt präsent ist und in der Gegenwart reagiert. Von Wittgenstein stammt der Satz: ‚Wo andere weitergehn, bleib ich stehn.’ Ja, es stimmt, Philosophie beginnt mit dem Staunen und Aufmerksamkeit ist nur ein anderes Wort für dieses Innehalten und Staunen. Für Carolin Emcke möchte ich den Satz etwas umformulieren. Dann könnte er lauten: ‚Wo andere wegschauen, schaue ich hin.’ Als Journalistin ist sie in die Kriegsgebiete gefahren und hat uns das, wovor wir lieber die Augen verschließen, in unseren Alltag und unser Bewusstsein zurückgebracht.  Sebastian Salgado, ihr Nachfolger in der Reihe der Friedenspreisträger, tut entsprechendes mit seiner Kamera. Wo andere wegschauen, schaue ich hin – das gilt aber auch für dunkle Momente unserer jüngsten Vergangenheit, die für sie nicht vergangen und vergessen sind, sondern aus dem Youtube Video Archiv wieder hervorgeholt werden, um sich ihnen erneut auszusetzen. So lässt sie das Video von der Ankunft von Flüchtlingen in Clausnitz noch einmal in Zeitlupe vor unserem geistigen Auge abrollen, wo sich die Flüchtlinge nicht aus dem Bus trauen, um ihre Unterkunft zu betreten, weil sie von einer Menge aufgebrachter Menschen in Schrecken und Angst versetzt werden. Oder das Video von Staten Island, wo die an sich harmlose Begegnung zwischen einem schwarzen jungen Mann mit zwei weißen Polizisten aus dem Ruder läuft und mit dem Tod des Schwarzen endet.

Carolin Emcke zeigt uns, dass man Zeuge sein kann, auch wenn man nicht dabei war. Man tut gut daran, sich diese Szenen einzuprägen, um sich aus der Rolle des reinen Zuschauers zu verabschieden, ein gemeinsames Gewissen auszubilden und zu lernen, wie man in Fällen der Hetze, der Entwürdigung und öffentlichen Demütigung intervenieren kann. ‚Nicht in meinem Namen!’ wie es im Lied von Bodo Wartke heißt.  Es gibt Erste Hilfe-Koffer und -Regeln für das Retten von Menschenleben am Unfallort. Wir brauchen entsprechende Regeln für das Sich Einsetzen für Menschen am Ort des Hasses. Diese Regeln müssen wir ebenso lernen und weitergeben, denn es bedarf – ich zitiere noch mal – oft nur „einer Geste, eines Einspruchs oder Zuspruchs, damit sich der Grund, auf dem alle stehen können, wieder festigt“ (Hass, 83).  Lesen Sie Carolin Emcke, meine Damen und Herren, Sie finden diese Regeln in all ihren Büchern!