Stadtfreiheitstag 2025 - Festrede von Prof. Dr. Sophie Schönberger
Freiheit als Versprechen, Gleichheit als Zumutung? Widersprüchliche Erwartungen an die Demokratie der Gegenwart - Festrede von Prof. Dr. Sophie Schönberger
- Es gilt das gesprochene Wort -
Ach, Demokratie! Ein bisschen nostalgisch, ein bisschen verzweifelt möchte man dieser Tage seufzen, wenn man an ihren Zustand in Deutschland, aber auch global denkt. Es ist nicht gut bestellt um sie, von der Krise der Demokratie ist allenthalben die Rede. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts warnte diese Woche in der Süddeutschen Zeitung sogar davor, dass sich unsere westliche Demokratie als eine kurze Phase in der Geschichte erweisen könnte.
Dabei liegt diese Krise aber jedenfalls nicht darin begründet, dass die Menschen in Deutschland der Demokratie als solcher gegenüber ablehnend eingestellt wären. Ganz im Gegenteil: Die Idee der Demokratie ist nach wie vor überaus positiv besetzt. Vielleicht funkelt und glitzert die Demokratie nicht mehr in gleicher Weise wie sie das in der Vergangenheit schon einmal tat. Das Verheißungsvolle an ihr hat sich ein wenig abgenutzt, ist vielleicht sogar ganz verschwunden. Es ist möglicherweise ein bisschen wie in einer langen Ehe, in der die akute Verliebtheit verschwunden, aber die Liebe doch geblieben ist. Allerdings sollte man bei diesem Vergleich auch nicht die historische Tatsache unterschätzen, dass die Verbindung mit der Demokratie für viele Deutsche nach 1945 eher eine Vernunftsehe als eine Liebesheirat war, aus der dann allerdings doch eine enge Verbindung entstanden ist.
Immerhin gibt in einer aktuellen Umfrage des Sinus-Instituts eine überwältigende Mehrheit von 84 % der Befragten an, dass sie es als wichtig empfänden, in einer Demokratie zu leben. Und auch nach den Ergebnissen der aktuellen Leipziger Autoritarismusstudie beträgt die Zustimmung zur Demokratie als Idee über 90 %. Dieser Befund scheint in einem merkwürdigen Widerspruch zur allseitigen Krisendiagnostik zu stehen. Wenn die Zustimmungswerte für die Demokratie so hoch sind, warum ist dann ihre wahrgenommene Krise so groß?
Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich in meinen Augen dadurch, dass bei aller Einigkeit darüber, in einer Demokratie leben zu wollen, die Frage danach, was man eigentlich genau mit demokratischer Herrschaft meint, immer unklarer wird. Meinen wir heute wirklich dasselbe, wenn wir über Demokratie sprechen? Ist die Idee der Demokratie, der über 90 % der Menschen in Deutschland ihre Zustimmung erteilen, in allen Köpfen der Befragten auch dieselbe? Tatsächlich scheint der Konsens darüber, was unter Demokratie zu verstehen ist, aktuell immer weiter auseinanderzugehen. Wenn wir aber nicht dasselbe meinen, wenn wir über Demokratie reden, ist klar, dass die abstrakte Zustimmung zum Begriff alleine nicht verhindert, dass sich die Demokratie im einen oder anderen Begriffsverständnis trotzdem in der Krise befindet.
Ich möchte Sie an dieser Stelle nicht mit einer Einführungsvorlesung zur Demokratietheorie langweilen. Deshalb will ich die zentralen Elemente der Demokratie aus einer wissenschaftlichen Perspektive nur äußerst knapp skizzieren. In einem sehr basalen Verständnis wird Demokratie als Herrschaftsform begriffen, die sich durch den Gedanken der Volkssouveränität und der Mehrheitsentscheidung definiert. Daneben existiert das etwas anspruchsvollere Konzept der liberalen Demokratie. Hier reicht die Mehrheitsentscheidung der zum demokratischen Volk Gehörenden alleine nicht aus. Hinzukommen müssen grundlegende Prinzipien demokratischer Freiheit und Gleichheit, die insbesondere in der Gewährleistung von Grundrechten und politischen Minderheitsrechten ihren Ausdruck finden, aber eben auch in einer strikt formalen Gleichbehandlung aller Bürgerinnen und Bürger in allen demokratischen Angelegenheiten.
Genau diese Elemente einer liberalen Demokratie sind es, die aktuell zunehmend unter Druck geraten – nicht zuletzt auch deshalb, weil der Konsens darüber, was genau darunter zu verstehen ist, schwindet. Das betrifft weniger die Dimension demokratischer Freiheit.
In der bereits zitierten Sinus-Studie gaben fast drei Viertel der Teilnehmenden bei einer offen formulierten Frage ohne vorgegebene Antwortmöglichkeiten an, dass Freiheit und Grundrechte für sie zu den konstituierenden Merkmalen einer Demokratie gehörten. Nur maximal ein Viertel der Befragten führte hingegen Fragen der Gleichheit an, wobei die Zahlen hier ungenau sind, weil Gleichheit und soziale Gerechtigkeit in einer Kategorie zusammengefasst sind.
Dieser schlechte Stand, den die demokratische Gleichheit im Vergleich zur Freiheit hat, ist nicht ganz überraschend. Denn in ihrer radikalen Einfachheit verlangt sie uns allen etwas ab, was in der heutigen Gesellschaft vielleicht mehr als je zuvor als Zumutung interpretiert wird: die konsequente Relativierung der eigenen Person. Die demokratische Gleichheit verlangt von uns, den Interessen, Wünschen, Meinungen und Ansichten jedes Einzelnen in der demokratischen Gemeinschaft dieselbe Berechtigung und dieselbe Bedeutung zuzuerkennen wie den eigenen. Sie verlangt außerdem von uns, eine demokratisch gefasste Mehrheitsentscheidung als verbindlich anzuerkennen, auch wenn man sie für noch so falsch, irrational, schädlich oder widersinnig hält. In einer Gesellschaft, die in historisch einzigartiger Weise mit ihrem liberalen Freiheitsversprechen das Individuum in den Mittelpunkt stellen kann und die Selbstentfaltung und Selbstoptimierung in vielen Bereichen zum Leitbild gemacht hat, erscheint diese Relativierung oft als kaum mehr zumutbar.
Allerdings ist dieses Erleben demokratischer Gleichheit als Zumutung historisch alles andere als neu. Elitäre, anti-demokratische Bestrebungen, genau diese Gleichheit nicht aushalten zu wollen, sind vielmehr so alt wie die Demokratie selbst. Sie sind tief verwurzelt in dem Unwillen der im vordemokratischen System Mächtigen, genau diese Macht nun demokratisch zu teilen. Dieser fehlende Wille, die demokratische Gleichheit auszuhalten, kann sich dann an ganz unterschiedlichen Demarkationslinien entfalten. Klassisch in Deutschland ist etwa die Frage der sozialen Klasse.
Historisch gesehen ist immer wieder der Einwand formuliert worden, dass die Beteiligung der Unterschicht – wie auch immer man diese definieren will – an der Herrschaft nicht zu sachgerechten Ergebnissen führen könne. Auch die Gewährung gleicher demokratischer Rechte für Frauen hat zu entsprechenden Abwehrkämpfen geführt, die in Deutschland mit der Revolution von 1918 schon relativ früh ausgefochten waren, aber etwa in der Schweiz noch bis in die 1990er Jahre geführt wurden. In anderen Ländern wie beispielsweise den USA verliefen vergleichbare Konfliktlinien auch ganz zentral anhand der ethnischen Zugehörigkeit. Subtile Reste solcher elitären anti-demokratischen Reflexe finden sich auch heute noch, wenn die Demokratie als Verfahren der „Vernünftigen“ oder „Vernunftsbegabten“ beschrieben wird und damit jene von der demokratischen Gleichheit ausschließen will, deren Diskursstil den eigenen Rationalitätsvorstellungen nicht entspricht.
Was wir nun aber in jüngerer Zeit, in der die Demokratie vor ganz neuartigen Herausforderungen zu stehen scheint, beobachten können, ist eine überaus interessante Umdrehung genau dieser elitären Gleichheitsskepsis durch den auf dem Vormarsch befindlichen politischen Populismus. Der gegenwärtige Populismus speist seine zentralen Gedanken aus einer radikal übersteigerten nicht nur anti-elitären, sondern elitenfeindlichen Denkweise und dreht damit die alten gleichheitsfeindlichen Reflexe praktisch auf den Kopf. Dabei will ich den oft schillernden Begriff des Populismus hier mit Jan-Werner Müller als Politikvorstellung verstehen, nach der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen, die zwar über das Volk herrschen, aber eigentlich gar nicht wirklich zum Volk dazugehören. In dieser Denkweise ist es nun nicht mehr der „Pöbel“, der von der gleichen demokratischen Herrschaft ausgeschlossen werden muss. Nein, es sind umgekehrt die Eliten, die schädlich für das Land sind und deshalb von der Herrschaft ferngehalten werden müssen zugunsten einer Machtübernahme durch das „wahre“ Volk.
Beim in Europa und Nordamerika zentralen Rechtspopulismus wird diese fehlende demokratische Gleichheit gegenüber den (tatsächlichen oder vermeintlichen) Eliten in aller Regel verbunden mit einem Abwehrkampf gegen die Gleichheit anderer gesellschaftlicher Gruppen wie etwa Musliminnen und Muslime, queere Menschen, aber auch ganz allgemein und plakativ Ausländerinnen und Ausländer. Hier stehen dann meist weniger die originären demokratischen Teilhaberechte als grundlegende Freiheitsrechte wie die Meinungsfreiheit, die Religionsfreiheit oder auch die Menschenwürde im Mittelpunkt. Der Kampf gegen Gleichheit ist hier also in besonderer Weise präsent.
Trotzdem sind Populistinnen und Populisten in ihrer Selbstwahrnehmung selten davon überzeugt, Anti-Demokraten zu sein. Ganz im Gegenteil: In aller Regel berufen sie sich darauf, die „wahren“ Demokraten zu sein, weil sie sich ja gerade für die Herrschaft des „wahren“ Volkes einsetzen. Dieses elementare Auseinanderfallen von Selbst- und Fremdwahrnehmung liegt tatsächlich in einem grundlegenden Unterschied im Verständnis demokratischer Gleichheit begründet. Die demokratische Gleichheit wird nämlich, ohne dass dies so ausgesprochen wird, aus dem populistischen Verständnis der Demokratie eliminiert. Denn der, der als anders definiert wird, mit dem man nicht übereinstimmt, ja mit dem man sich vielleicht sogar durch überhaupt nichts verbunden fühlt, wird nicht als gleich akzeptiert, wird nicht als möglicher politischer Gegner ausgehalten, sondern wird einfach aus der demokratischen Gemeinschaft, dem Volk, wegdefiniert – auch wenn er oder sie im formalen Zuordnungssinne noch so sehr dazugehört.
In ihrer Grundstruktur sind die heutigen Populisten mit ihren anti-elitären Kampfformeln früheren Demokratiekritikern mit ihrem anti-egalitären Anliegen daher erstaunlich ähnlich. Im Kern geht es immer darum, die eigenen Interessen, Bedürfnisse und Ziele gegen diejenigen anderer Gruppen durchzusetzen – notfalls auch entgegen der grundlegenden demokratischen Mehrheitsregel. Und das gelingt eben am einfachsten, indem man Personen mit anderen Interessen, Bedürfnissen und Zielen die demokratische Gleichheit abspricht.
Der Unterschied zu vergangenen Abgrenzungskämpfen liegt aber nun darin, dass sich diese Abwehr- und Abgrenzungslinien beim heutigen Populismus nicht mehr primär an herkömmlichen Gruppengrenzen wie etwa sozialer Klasse, ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht orientieren.
Dieser Befund mag auf den ersten Blick überraschen, weil gerade der Rechtspopulismus an der Oberfläche an überkommene Gruppengrenzen des alten Nationalstaats anknüpft, dessen glorreiche Zeiten er immer wieder beschwört. Die zentrale Unterscheidung in den populistischen Denkmustern, die zwischen dem „wahren“ Volk und den „anderen“ unterscheidet, verläuft aber tatsächlich anhand einer anderen Linie: der eigenen Meinung. Denn nach dem eigenen Verständnis weiß derjenige, der in populistischen Strukturen denkt und sich von populistischer Politik angesprochen fühlt, von ganz allein, was die Meinung des Volkes, eben des „wahren“ Volkes ist: Es ist nämlich nichts anderes als das, was er oder sie selbst für richtig hält. Die Meinung des „wahren“ Volkes ist also nichts anderes als die eigene Meinung. Auf diese Weise kommt man dann in die sehr bequeme Situation, alle politischen Entscheidungen, die man inhaltlich nicht für richtig hält, als undemokratisch brandmarken zu können – weil sie ja eben nicht dem Willen des „wahren“ Volkes entsprechen. Die grundlegende demokratische Mehrheitsregel wird ausgehebelt, die Schwierigkeit, andere Meinungen, Bedürfnisse und Ziele aushalten und als gleichwertig akzeptieren zu müssen, entfällt. Damit sind die Grundbedingungen der liberalen Demokratie zerstört – und gleichzeitig wird in der Selbstwahrnehmung in besonderer Weise ein demokratischer Anspruch aufrechterhalten.
Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass es im Kern des Populismus nicht nur um eine überhöhte Form von Gemeinschaftsvorstellung geht, die auf der Idee struktureller Gleichartigkeit beruht. Es handelt sich vielmehr um ein radikales Individualisierungsprojekt, das die individuelle demokratische Freiheit über alles setzt – und sie damit doch gleichzeitig missversteht, wenn sie sie von der demokratischen Gleichheit entkoppeln will.
Denn man muss kein Marxist sein, um die grundlegende Erkenntnis Rosa Luxemburgs anzuerkennen: Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. Absolute Freiheit kann es in keiner menschlichen Gemeinschaft, schon gar nicht in einer demokratischen Gesellschaft, geben. Denn es können eben nur dann alle frei sein, wenn sie in dieser Freiheit auch gleichberechtigt sind.
Das übersteigerte Freiheitsversprechen des Populismus passt dennoch perfekt in die Zeit – auch über die Kreise derjenigen Menschen hinaus, die populistischen Parteien anhängen. Denn in der Spätmoderne, wie unsere gegenwärtige Epoche gern genannt wird, ist das Individuum immer weniger gezwungen, sein eigenes Verhalten an solchen sozialen Zwängen auszurichten, die noch im 20. Jahrhundert das alltägliche Leben auf intensivste Weise geprägt haben. Gleichzeitig schwindet jedenfalls in der (weit verstandenen) bürgerlichen Mitte der Gegenwartsgesellschaft die Vorstellung, dass Konformität innerhalb der Gesellschaft per se ein wünschenswerter Zustand wäre. Nicht die Anpassung an die herrschenden Standards in Mode, Bildung, Beruf, Ernährung, Familie und Freizeit erscheint erstrebenswert, sondern umgekehrt die maximale Verwirklichung der eigenen Person durch Individualität in all diesen Bereichen.
Damit hat die Gleichheit aber in der gegenwärtigen Gesellschaft einen schlechten Stand. Denn zu der Idee maximaler Individualität und Selbstverwirklichung steht sie in einem gewissen Spannungsverhältnis. Anders formuliert: Man braucht schon eine gehörige Portion Selbstbewusstsein, um gleichzeitig ständig um sich selbst zu kreisen und mit der Optimierung des eigenen Selbst beschäftigt zu sein, ohne dass dieser Prozess in gleichem Maße wie in früheren Jahrzehnten durch die soziale Einbettung in eine gesellschaftliche Gruppe abgemildert und einfacher gemacht würde, und trotzdem gleichzeitig mit völliger Gelassenheit die eigene Person dann so zu relativieren, dass man den Ideen, Wünschen und Bedürfnissen anderer Menschen die gleiche Berechtigung zuspricht wie den eigenen – eben weil es die demokratische Gleichheit erfordert.
Dass diese Fähigkeit abnimmt in Zeiten, in denen die eigenen Lebensumstände etwa durch neue außenpolitische Bedrohungen, aber auch Entwicklungen wie den Klimawandel, als deutlich unsicherer empfunden werden, kann nicht überraschen, auch wenn dieser Befund nicht unbedingt optimistisch stimmt.
Auf der Suche nach Gegenstrategien zu dieser prekären Situation, in der sich die demokratische Gleichheit momentan befindet, stößt man schnell auf einen anderen Diskurs, der auf den ersten Blick eine Lösung zu offerieren scheint: der Kampf gegen die Polarisierung der Gesellschaft. Das Klagen über die (politische) Polarisierung scheint aktuell zum Grundrauschen unserer Zeit geworden zu sein. Kaum eine besorgte Debatte über den Zustand der demokratischen Gesellschaft scheint noch ohne den Topos auszukommen. Was genau damit gemeint ist, bleibt in diesen Debatten allerdings meist reichlich unklar. Die soziologische Forschung hat jedenfalls festgestellt, dass ein signifikantes Auseinanderdriften der politischen Einstellungen in Deutschland in politische Extreme an den Rändern nicht festgestellt werden kann. Was allerdings messbar ist, ist eine erhebliche Sorge in der Bevölkerung vor einer zunehmenden Polarisierung, wobei hier die gemessenen Werte innerhalb weniger Monate zwischen 75 % und 40 % schwanken können, also überaus volatil sind.
Die politischen Antworten auf diese Entwicklung sind im Moment noch relativ unklar, es dominiert die gebetsmühlenartige Wiederholung des Problembefunds, der allerdings seinerseits vage bleibt. Eine Lösungsstrategie, die sich gerade herauskristallisiert, ist allerdings der Versuch, die politischen Ausdrucksformen in einen engeren Korridor zu lenken, um damit der wahrgenommenen Polarisierung entgegenzuwirken. Gerade im Bundestag lässt sich in der aktuellen Legislaturperiode beobachten, wie scharfe, polemische Kritik vermehrt aus der Debatte auszuschließen versucht wird – genauso wie Meinungsäußerungen und äußeres Auftreten, die nicht dem überkommenen Bild des Abgeordneten in gedecktem Anzug oder Kostüm entsprechen. Dies kann dann etwa eine Baskenmütze, die im Plenum getragen wird, ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Palestine“ oder auch ein Anstecker mit der Srebrenica-Blume sein.
In den außerparlamentarischen Bereich gewendet finden sich ähnliche Aspekte bei der Debatte um die sogenannte „Cancel Culture“. Auch hier stehen sich zwei widerstreitende Positionen gegenüber, die in strukturell sehr ähnlicher Weise versuchen, den Korridor der Auseinandersetzung zu verengen: Die eine Seite wendet sich gegen Äußerungen, die sie etwa als sexistisch oder rassistisch einordnet, weil sie durch solche Äußerungen die gleiche Teilhabe marginalisierter Gruppen am Diskurs eingeschränkt sieht. Die andere Seite wendet sich genau gegen diese, teils als aggressiv erlebte Kritik, weil sie durch die Kritik die eigene Teilhabe am Diskurs eingeschränkt sieht. Auch hier ist man im Übrigen schnell mit dem Vorwurf bei der Hand, die andere Seite würde sich undemokratisch verhalten.
Man mag die Versuche, in dieser Situation einen engeren Korridor der Auseinandersetzung durchzusetzen, auf den ersten Blick als eine Hinwendung zu mehr politischer Gleichheit interpretieren, weil die äußeren Rahmenbedingungen der Diskussion so geglättet werden sollen, dass die gleiche Entfaltung für alle ermöglicht wird. Dass aber genau dieses Ziel gleicher Entfaltung nicht erreicht wird, zeigt schon anschaulich das Beispiel der sogenannten „Cancel Culture“, in der mit dem identischen Ziel gerade entgegengesetzte Äußerungen weggeglättet werden sollen. Denn tatsächlich geht es bei all diesen Versuchen nicht um die Herstellung von mehr Gleichheit, sondern vielmehr um die Herstellung von Gleichartigkeit und Konformität. Damit wird aber nicht nur die Gleichheit in ihrer Essenz angegriffen – denn wo Gleichartigkeit herrscht, bleibt für formale Gleichheit, die gerade auch die Gleichheit bei individueller Unterschiedlichkeit gewährleistet, kein Raum. Auch die Freiheit bleibt auf der Strecke, denn die Freiheit ist gerade auch immer die Freiheit zur Andersartigkeit.
Dass dies nicht die einzige Form des Umgangs mit aufgeladenen Debatten über unterschiedliche Grundsatzpositionen ist, zeigt ein ganz kurzer Rückblick in die alte Bundesrepublik, für den ich Sie zum Abschluss noch einmal kurz ins Jahr 1978 mitnehmen möchte.
Helmut Schmidt war Bundeskanzler unter einer sozialliberalen Koalition, auch wenn aus der Bundestagswahl zwei Jahre zuvor die Union unter Helmut Kohl als stärkste Kraft hervorgegangen war. Mehr als 48 % der Zweitstimmen hatte sie mit ihrem zentralen Wahlkampfslogan „Freiheit statt Sozialismus“ errungen und war trotzdem in der Opposition gelandet. Doch das Wahlkampfgetöse hallte nach. „Ihre „Freiheit“ ist nicht unsere“, rief der SPD-Abgeordnete Olaf Schwencke in einer hitzigen Bundestagsdebatte zur Terrorismusbekämpfung der CDU/CSU-Fraktion von der Rednertribüne aus zu. „Ihre Republik ist nicht unsere“, antwortete der damalige Oppositionsführer Helmut Kohl ihm darauf, und fügte hinzu, „und darüber werden wir uns auseinandersetzen. Wer so wie Sie den politisch Andersdenkenden in seiner moralischen Grundlage angreift, der muss die Antwort bekommen, die er allein versteht.“
Der Angriff, auch der moralische, ist hier also gerade nicht das Ende, sondern vielmehr der Beginn eines Diskurses. Bei allen denkbar scharfen inhaltlichen Gegensätzen und Konflikten wird die Gegenseite doch als demokratisch gleich anerkannt. „Und darüber werden wir uns auseinandersetzen“, ist der Beginn einer demokratischen Auseinandersetzung unter Gleichen.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Nichts liegt mir ferner, als an dieser Stelle in eine allgemeine Nostalgie der alten Bundesrepublik zu verfallen. Es war nicht alles besser und die Debattenkultur der 1970er Jahre hatte ihre eigenen Tücken und Probleme. Aber diese kleine Anekdote kann doch vielleicht dabei helfen, die heutigen Auseinandersetzungen besser einzuordnen.
Lassen Sie mich diese Rede zum Stadtfreiheitstag daher mit einem großen Appell an die demokratische Gleichheit schließen, ohne die echte demokratische Freiheit nicht zu haben ist. Gleichheit, auch in der Vielfalt, ist eine elementare Voraussetzung der Demokratie – auch dann, wenn es manchmal weh tut.