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Stadtfreiheitstag 2022 - Festrede von Prof. Dr. Dr. Johannes Wallacher

Freiheit und Nachhaltigkeit – Verbündete oder Gegenspieler? - Festrede von Prof. Dr. Dr. Johannes Wallacher

- Es gilt das gesprochene Wort - 

Verehrte Frau Oberbürgermeisterin, sehr geehrte Festgäste, verehrte Auszuzeichnende,

danke Frau Maltz-Schwarzfischer für die freundliche Vorstellung und ehrenvolle Einladung, die Festrede zum diesjährigen Stadtfreiheitstag der Freien Reichstadt Regensburg halten zu dürfen.

Dass die Stadt Regensburg jährlich nicht nur die Erhebung zur Freien Reichstadt vor knapp 800 Jahren begeht, sondern darüber nachdenkt, was Freiheit angesichts der multiplen Krisen unserer Tage heute bedeutet, finde ich bemerkenswert. Sehr gerne bin ich der Einladung gefolgt, den Zusammenhang von Freiheit und Nachhaltigkeit grundlegender zu betrachten und zu überlegen, was dies für mehr Nachhaltigkeit und geeignete Maßnahmen, um dies zu erreichen, bedeutet.

Sind „Freiheit und Nachhaltigkeit – Verbündete oder Gegenspieler?“ so die Leitfrage meiner Ausführungen. Für die Allermeisten sind Freiheit und Nachhaltigkeit positive Ziele. Gleichzeitig gibt es Hinweise darauf, dass nicht nur „das subjektive Freiheitsgefühl“ in Deutschland v.a. in Folge der Corona-Pandemie massiv zurück geht[1]. Auch die Bedeutung von Nachhaltigkeit scheint aufgrund der vielfältigen derzeitigen Herausforderungen in den Hintergrund zu rücken – so zumindest das Ergebnis einer jüngsten Umfrage des Marktforschungsinstituts Forsa unter Führungskräften der deutschen Wirtschaft vom September 2022.

Sowohl Freiheit als auch Nachhaltigkeit scheinen also in Krisenzeiten unter Druck zu geraten. Wie sich aber Freiheit und Nachhaltigkeit grundsätzlich zueinander verhalten, ist schon bei näherer Betrachtung weniger klar. Dies möchte ich zu Beginn an wenigen Beispiele erläutern:   

Welche Rolle sollen Verbote bzw. das Ordnungsrecht (wie ein Tempolimit, ein Verbot innerdeutscher Flüge, ein verordneter Veggie-Tag oder gar Konsumobergrenzen) für die Nachhaltigkeitspolitik spielen? Die einen sehen das mit dem Verweis auf die planeta­ri­schen Belastungsgrenzen und den weit überdurchschnittlichen ökologischen Fußabdruck in den Wohlstandsländern als unausweichlich an – während die anderen das als unzulässige Einschränkung der persönlichen Freiheit ablehnen und statt dessen für marktwirtschaftliche Anreize und technologische Innovationen werben.

Wie lässt sich dann aber die notwendige Zustimmung Betroffener erreichen, wenn es etwa um den Ausbau von Windrädern oder Stromtrassen geht, die bei aller Einsicht in die gesellschaftliche Notwendigkeit sehr oft am St. Florians-Prinzip (oder neudeutsch der Haltung „Not in my backyard“) scheitern, sobald die Transformation der Energiever­sorgung persönliche Veränderungen erforderlich macht?  

Noch grundsätzlicher stellen nicht wenige die Frage, inwiefern freiheitlich-demokratische Demokratien zu behäbig oder langsam sind, um notwendige Strukturveränderungen für mehr Nachhaltigkeit in der gebotenen Zeit gegen partikulare Eigeninteressen durchzusetzen. Gelingt das autoritären Systemen möglicherweise besser und schneller als freiheitlichen Demokratien, wie manche mit Verweis auf den kometenhaften Aufstieg Chinas in der Weltpolitik fragen? Empirische Belege, dass Autokratien in der Nachhaltigkeitspolitik wirksamer und erfolgreicher sind, gibt es freilich keine.

Einige Umweltbewegungen stellen immer lauter auch die Systemfrage, verbunden mit einer Fundamentalkritik an der Marktwirtschaft, die ihrer Ansicht nach wesentlich für die Zerstörung der Umwelt und soziale Ungleichgewichte mit verantwortlich sind und daher nicht Teil der Lösung sein kann. Dazu gehören Gruppen wie die „Protestierenden der letzten Generation“, die ihren Aktivismus in Form von Straßenblockaden oder Lebens­mittelattacken auf berühmte Gemälde mit dem Notstand zu legitimieren suchen, der für freiheitlich-demokratische Prozesse keine Zeit lasse.

I Explikation von Freiheit und Nachhaltigkeit als sich ergänzende normative Leitbilder

Freiheit und Nachhaltigkeit also doch eher Gegenspieler? Um diese Frage zu beantworten, wird man nicht umhinkönnen, die Bedeutung von Freiheit und Nachhaltigkeit näher zu klären. Solche Klärungen sind ja eine „Lieblingsbeschäftigung“ von Philosophen, in diesem Fall scheint der Bedarf aber offensichtlich zu sein. Wenn schon der Verweis auf „Freiheit“ oft uneindeutig ist, gilt das beim Wort „Nachhaltigkeit“ umso mehr, weshalb man in beiden Fällen den „Beliebigkeitseinwand“ besonders ernst nehmen sollte. Gerade die „Rede von…“  „Nachhaltigkeit“ ist häufig mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt, auch weil es häufig als Attribut in vielfältigen Kombinationsbildungen verwendet wird. Denn niemand will sich heute vorwerfen lassen, nicht „nachhaltig“ zu sein, deswegen sprechen wir wie selbstverständlich von „nachhaltigen Gewinnen“, „nachhaltigen Projekten“, „nachhaltiger Kunst“ oder „nachhaltigem Wachstum“, merken dann aber bald, dass wir damit meist unterschiedliches meinen und dies kaum zusammenpasst.

Man kann sich dann fragen, ob die damit verbundenen Unklarheiten dem Ausdruck „Nachhaltigkeit“ oder den Nutzern und ihren jeweiligen (partikularen) Interessen anzulasten sind?

Auch wenn das wie eine „sprachphilosophische Spitzfindigkeit“ klingen mag, plädiere ich daher dafür bei „Freiheit“ und „Nachhaltigkeit“ nicht von Begriffen zu sprechen. Denn das würde nahe legen, das es eine klare, für alle zustimmungsfähige Definition gäbe, wie das zum Beispiel bei Begriffen wie Energie der Fall ist. Bei Wörtern wie „Freiheit“ und „Nachhaltigkeit“ handelt es sich um normative Leitbilder, deren Bedeutungskern nur teilweise klar ist und die daher durch eine Explikation präzisiert werden sollten.

Für eine solche Präzisierung möchte im Folgenden Vorschläge machen, zunächst für das Verständnis von Freiheit, dann von Nachhaltigkeit, um dann auf Basis dann dafür zu argumentieren, dass Freiheit und Nachhaltigkeit doch eher Verbündete als Gegenspieler sind

Beginnen möchte ich mit der Freiheit: Eine der zentralen Einsichten der Aufklärung ist die Selbstbegrenzung der Freiheit aus Freiheit, d.h. der Gedanke, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft ebenso viel Freiheit zuzugestehen ist, wie man für sich selbst beansprucht. Freiheit ist damit niemals unbegrenzt, sondern endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Dieser Allgemeincharakter der Freiheit findet sich übrigens bereits ansatzweise auch schon im Denken der Antike wie des Mittelalters, z.B. in der aristotelisch-thomistischen Tradition des Gemein­wohls (bonum commune), welche das Wohl aller Menschen und des ganzen Menschen im Blick hat.

Dies schließt m.E. eine libertäre Engführung aus, wo nach Freiheit negativ verstanden ausschließlich bedeutet, einschränkende Freiheitsrechte zu vermeiden. Freiheit ist nicht einfach die Abwesenheit von Zwang oder Verboten, sondern auch zu verstehen als „Freiheit zu …“, als gewährende und ermöglichende Freiheit zugunsten derer, deren Freiheitsrechte nicht, noch nicht oder nicht mehr gesichert sind. Und wenn man den universalen Charakter der gleichen Freiheits­rechte aller ernst nimmt, besteht dann auch eine Verantwortung gegenüber denen, die von unseren Handlungen in fernen Regionen betroffen sind – konkret etwa ärmere Menschen in Teilen der Erde, die schon heute besonders unter den Folgen des Klimawandels, Wasserknappheit oder dem Verlust der Artenvielfalt leiden.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Klimaschutzgesetz der Bundesregierung vom April 2021 zudem bestätigt, dass auch die Freiheitsspielräume zukünftiger Generationen in den zu nehmen sind. Mit dem Hinweis auf zu schützende Freiheitsrechte noch nicht geborener Menschen hat das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung zur Nachbesserung des Klimaschutzgesetzes aufgefordert.

Erstens mussten die Klimaschutzziele über 2030 hinaus genauer formuliert werden, zweitens wurde die damalige Regierung dazu angehalten, nicht nur Ziele zu formulieren, sondern auch konkrete Maßnahmen zu benennen, mit denen man diese Ziele auch erreichen kann. In der Begründung des Urteils wurde höchstrichterlich bestätigt, dass Freiheit notwendigerweise mit sozial-ökologischer Verantwortung zu verbinden ist.

Kommen wir zur Nachhaltigkeit, wo der Gebrauch oft noch unklarer ist. Für die notwendige Explikation hilft ein Blick auf die sprachlichen Wurzeln, die bekanntlich im Forstwesen des frühen 18. Jahrhunderts liegen. Es war Hans Carl von Carlowitz, Oberberghauptmann und Leiter des sächsischen Oberbergamts, der 1713 in seinem Werk Sylvicultura oeconomica das Wort „nachhalten“ einführte, um eine „continuierliche, beständige und nachhaltende Nutzung“ des Holzes zu fordern. Holz war damals die entscheidende Energiequelle für den Betrieb der Silbererzbergwerke und Schmelzhütten im sächsischen Freiberg, zu dieser Zeit ein Innovations­zentrum der frühen Industrialisierung von europäischer Bedeutung. Die rapide Abholung der Wälder in den Jahrzehnten zuvor führte in ganz Europa zu einer Ressourcenkrise und Carlowitz warb – nachdem er sich früh mit Strategien gegen die Holzknappheit in England und dem Merkantilismus in Frankreich auseinandersetzte –, für eine behutsame Nutzung des Holzes die „eine Gleichheit zwischen An- und Zuwachs und dem Abtrieb des Holzes“ herstellen muss.

Carlotwitz betonte „Conservation und Anbau des Holzes“, d.h. Nachhaltigkeit war von Anfang an also nicht primär Begrenzung oder Regulierung menschlicher Aktivitäten, sondern es ging um „gutes“ (intergenerationelles) Ressourcenmanagement, das einerseits erlaubt, Erträge aus der Nutzung des Holzes zu erwirtschaften, andererseits aber auch dazu verpflichtet, den Bestand durch aktiven Anbau (oder Innovationen zur Erschließung anderer Energieträger) zu erhalten. Dieser Grundsatz des Usus fructus, der sich übrigens auch in Eigentumstheorien früher liberaler Denken wie John Locke findet, ist mehr als 250 Jahre später auch die Grundlage für die berühmte Formulierung der UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung, „Our Common Future“ von 1987 (Brundtland-Bericht):

„Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.

Das unterstreicht noch einmal den schon erwähnten Allgemeincharakter der Freiheit, der auch die Rücksichtnahme auf zukünftige Generationen einschließen muss.

Erlauben Sie mir noch zwei weitere Hinweise, die ich für die Explikation des Leitbilds der Nachhaltigkeit für wichtig halte.

Viele beschreiben Nachhaltigkeit einfach als Modell dreier Säulen von Ökologie, Ökonomie und Sozialem, die miteinander in ein Gleichgewicht zu bringen sind. Das ist missverständlich und unzureichend. Denn schon diese drei Dimensionen stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander und sie sollten auch nicht einfach gegenseitig ausgespielt werden. Sie sind wechselseitig miteinander verbunden und beziehen sich auf unterschiedliche Ebenen und Kategorien.

Ein mit dem Anspruch ermöglichender Freiheit vermittelbares Ziel von nachhaltiger Entwicklung ist, dass alle Menschen – jetzt und zukünftig – zumindest grundlegende Möglichkeiten haben sollen, gut leben zu können, das wäre die soziale Dimension,

  • die ökonomische Dimension verweist darauf, dass Wirtschaft notwendiges Mittel und Medium von Entwicklung ist (nicht mehr und nicht weniger!) und
  • die ökologische Dimension erinnert an die ökologische Basis und verweist auf die Notwendigkeit, die – auch von Kultur, sozialer Organisation und Technologie mit bestimmten – natürlichen planetarischen Belastungsgrenzen von Entwicklung.

Der Hinweis auf Kultur und soziale Organisation macht deutlich, dass mit Demokratie und Kultur mindestens zwei wichtige weitere Dimensionen für Nachhaltigkeit relevant sind.

Unsere Vorstellungen von Entwicklung, Wohlstand, Lebens- und Konsumstilen sind immer mit bestimmt von kulturell geprägten Sichtweisen, Wertorientierungen, Weltzugängen oder Menschenbildern. Solch kulturelle Fragen müssen daher in der Nachhaltigkeitspolitik stärker als bisher berücksichtigt werden, wenn es etwa um neue Formen der Messung von volkswirtschaftlichem Wohlstand oder unternehmerischen Gewinnen geht.

Und: Nachhaltigkeit und deren Operationalisierung sind keine objektivierbaren Ziele, sondern erfordern innovative Institutionen, die Informations-, Mitsprache und Teilhabemöglichkeiten auf verschiedenen Handlungsebenen schaffen – auch um populistischen Verleugnungen und Verschwörungen zu widerstehen. Partizipative Nachhaltigkeitspolitik, die politischen Mut, gute Kommunikation und kohärentes Handeln miteinander verbindet, kann schneller agieren und mehr Langfristorientierung erreichen. Dazu gibt es inzwischen eine intensive Debatte darüber, wie man notwendige Reformen von den politischen Sachzwängen zu kurzer Wahlperioden entlastet – indem man etwa wichtige klimapolitische Grundsatzentscheidungen an Institutionen delegiert, die unabhängig von Wahlausgängen langfristig bindende Nachhaltigkeitsziele verfolgen können. Konkret wird die Idee einer europäischen Klimazentralbank diskutiert, ein anderes Modell dafür ist das Committee on Climate Change, das seit 2006 in GB parteiübergreifend die Leitlinien der Klimapolitik formuliert und mit wesentlich mehr Befugnissen ausgestattet ist als vergleichbare Beratungsgremien bei uns.  

II. Wie Freiheit und Nachhaltigkeit konkret zusammenbringen?

Damit wäre ich bei konkreteren Maßnahmen, um Freiheit und Nachhaltigkeit enger zu verknüpfen.

Willkommen in der vollen Welt

Auch dabei ist es wichtig die gerade genannte kulturelle Dimension zu berücksichtigen. Die multiplen Krisen zeigen wie wichtig es, alte Paradigmen aufbrechen und durch veränderte Denkmuster und ein zukunftsorientiertes „Mindset“ zu ersetzen. Nachhaltigkeit erfordert v.a. eine neue Idee von Vermögen und Fortschritt, die auch Natur-, Human- und Sozialkapital als bedeutsam für unseren Wohlstand und unsere Resilienz betrachtet. Zudem brauchen wir Narrative, die uns für eine attraktive Zukunft motivieren. Das stetige Wachstum des BIP im Sinne eines einfachen „Höher, Schneller, Weiter“ – das zeigen uns u.a. auch die empirischen Ergebnisse der ökonomischen Glücks- oder Zufriedenheitsforschung – reicht dafür nicht aus.

Eine weitere wichtige Voraussetzung: Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir inzwischen in einer begrenzten Welt angekommen sind (Stichwort: planetarische Belastungsgrenzen, die beim Klimawandel und noch mehr beim Verlust der Artenvielfalt bedrohlich überschritten sind!). Gleichzeitig ist unsere Welt nicht nur begrenzt, sondern auch immer voller. Umgerechnet auf die Biomasse der verschiedenen Lebewesen stellen die knapp 8 Milliarden Menschen lediglich 33 % dar, 67 % sind Nutztiere und lediglich noch 3 % Wildtiere.

Dagegen stammt unsere freiheitlich-ökonomische Sicht der Welt in weiten Teilen noch aus der Zeit einer leeren Welt. Auch wenn die Menschen bereits seit Urzeiten mit ihrer Zeit und Arbeits­kraft ökonomisch umgehen, blieb der Wert der Natur stets unberücksichtigt. Sie hatte keinen Preis. Und – ungeachtet der Mahnungen a la Carlowitz – wurde sie zu keiner Zeit als schutz- und investitionsbedürftige Ressource wahrgenommen. Das gilt trotz einigen Erkenntnisfortschritts bis heute.

Aber dieses Naturverständnis trägt nicht mehr in einer vollen, heißer werdenden Welt. Wenn jeder die Natur (kostenlos) nutzen kann, dann kann sie potentiell auch ein jeder zerstören. Dieser Missbrauch wird dadurch erleichtert, dass Nutzen und Kosten der Nutzung in aller Regel ausein­an­der­fallen. Den Nutzen hat die begrenzte Menschengruppe, die überdurchschnittlich viel Ressour­cen verbraucht, CO2 und Schadstoffe ausstößt, die brandrodet, das Wasserkraftwerk am Fluss baut usf.  Die Kosten hingegen trägt unspezifisch „die Natur“ selbst. Und wenn die negativen Effekte Menschen betreffen, dann kurzfristig die Schwächsten, mittelfristig aber die gesamte Menschheitsfamilie.

Was früher der Unterlieger am Dorfbach war, ist heute bei der neuen Dimension der Natur-zerstörung die Menschheit schlechthin. Und sie trifft in besonderem Maß diejenigen, deren Fähigkeit zur Anpassung am geringsten ist. Dabei beziffert der an die britische Regierung gerichtete Dasgupta Review zur Ökonomie zur Artenvielfalt aus dem Jahr 2021 den Verlust des Naturkapitals in 2014 gegenüber 1992 auf 40%. Nach Berechnungen des World Wide Fund For Nature (WWF) haben wir in nur 30 Jahren 70% unseres Wildtierbestandes verloren. Wir erleben die quasi vollständige Marginalisierung des natürlichen Lebens. Wissenschaftler warnen vor den dramatischen Konsequenzen, falls es auf der bevorstehenden UN-Konferenz zur Rettung der Artenvielfalt im Dezember in Montreal nicht gelingt, den Verlust der Artenvielfalt umzukehren.  

Wie die „Trittbrettfahrer“-Mentalität beenden?

Klima, Umwelt und Artenvielfalt sind Gemeingüter. Nach der auf Thomas von Aquin zurückgehenden Tradition der katholischen Soziallehre – übrigens auch der des deutschen Grundgesetzes – steht jedes Eigentum an Gütern (Privateigentum, staatlicher Zugriff auf Ressourcen auf eigenem Territorium) unter dem Vorbehalt der Sozialpflichtigkeit. Führende Klimawissenschaftler verweisen darauf, wie wichtig es war, das Papst Franziskus diesen Grundsatz in seiner Enzyklika Laudato si‘ im Jahr 2015 nicht nur auf Rohstoffe, sondern erstmalig auch auf die Erdatmosphäre erweitert („Das Klima ist ein gemeinschaftliches Gut von allen für alle.“) und hat dabei auch die Weltmeere und andere Ökosysteme einbezogen hat.

Der Kerngedanke: Weil diese Güter für alle Menschen von existenzieller Bedeutung sind, müssen sie als globale Gemein(schafts)güter verstanden werden, deren Bewirtschaftung nicht nur unter dem Vorbehalt einer verschärften Sozialpflichtigkeit, sondern auch der Treuhänderschaft steht. Das gilt für alle unsere kollektiven Lebensgrundlagen, alle wichtigen natürlichen Senken für Treib­hausgasemissionen, Ozeane, Regenwälder und die Erdatmosphäre: Sie alle stehen unter besonderen Schutzpflichten, und ihre Nutzung ist an Grundsätze der Gerechtigkeit gebunden. Um das zu erreichen, muss die Nutzung und Verschmutzung der Natur mit einem angemessenen Preis versehen werden, der von den Verursachern zu tragen ist. Dies schafft erhebliche Anreize für eine effizientere Nutzung von Energie und Ressourcen und mindert Umweltnutzung und Schadstoffemissionen effizienter als durch Verbote mit zahllosen Ausnahmeregelungen.

Wenn wir es also mit Nachhaltigkeit ernst meinen, werden die derzeit hohen Preise für schmut­zige fossile Energieträger das „new normal“ sein. Da dies staatlicherseits in der Breite nicht auf Dauer durch Subventionen abgefangen werden kann, sollte sich die soziale Abfederung auf die Bedürftigen beschränken. Stattdessen braucht es noch mehr Anreize für den schnelleren Ausbau von erneuerbaren Energien, die Reduzierung des Energie- und Ressourcenverbrauchs und notwendige technische Innovationen.

Gleichzeitig ist eine Bepreisung von Umweltgebrauch wie von Schadstoffemissionen inter­na­tional über CO2-Mindestpreise abzustimmen, um sich gegenüber „Trittbrettfahrern“ abzusichern

Ein solcher Perspektivenwechsel kann nicht nur Liberales mit Ökologischem, sondern auch Ökologisches mit Liberalem versöhnen: Die liberale Seite nimmt traditionell klassischerweise gern Bezug auf technologische Innova­tio­nen, die für eine nachhaltige Entwicklung erforderlich sind. Das hat oft zu Abwehrreaktionen bei denjenigen geführt, die in Marktkräften gern das Grundübel, jedenfalls keine Lösung für soziale Verwerfungen, Umweltzerstörungen und den Klimawandel erblicken. Sie pflegten bisher gern das Argument, technologische Innovationen beförderten die Entfremdung des Menschen von seiner Umwelt.

Doch Protagonisten der Nachhaltigkeit haben inzwischen ganz gut verstanden, dass eine Systemtransformation ohne technologische Lösungen und Marktanreize nicht gelingen kann. Sie haben verstanden, dass Technologie bei einem geeigneten sozial-ökologischen Ordnungsrahmen nicht mit Kontrollverlust und Monopolrendite einhergehen muss. Und sie haben verstanden, wie eng ihre Vision einer gerechten und ökologisch fundierten Gesellschaft mit der Innovationskraft von Unternehmen und einer marktlich verfassten Volkswirtschaft verbunden ist.

Gleichwohl sind die genannten Reformen einer sozial-ökologischen Transformation kein Selbst­läufer. Sie müssen durch einen tiefergreifenden Kultur-, Bewusstseins- und Wertewandel vorbe­reitet, ergänzt und begleitet werden. Dafür steht die Leitidee der Suffizienz, die ein gutes Leben nicht vom „immer mehr und billiger“, sondern von der Tugend des rechten Maßes her versteht und gerade auch die „unbezahlbaren“ Dinge wertschätzt. Das Erleben der Natur, die Sorge um Familienangehörige und bedürftige Mitmenschen, der Einsatz für Kultur und das Engagement für Ideale wie Mitmenschlichkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt sind nicht in Geld aufzu­wiegen – und doch Grundlage für sozialen Zusammenhalt und breitenwirksamen wirt­schaft­lichen Wohlstand. Letzterer wird künftig aber stärker von einem Wert- statt von einem reinen Mengenwachstum bestimmt sein. Die Politik sollte diesen Bewusstseinswandel unterstützen:

  • Anbieter brauchen geeignete Anreize, langlebigere und wiederverwendbare Produkte herzustellen, Verbraucher müssen durch einfache und transparente Qualitäts- und Herkunftssiegel mehr Entscheidungsspielraum erhalten, die Infrastruktur für umwelt­freundlichen Nah- und Fernverkehr muss deutlich ausgebaut werden, um suffiziente Lebensstile attraktiver zu machen.
  • Zudem sind auch Leitbilder so zu verändern, dass sie nachhaltige Entwicklung befördern, wie schon erwähnt etwa durch ein anderes Verständnis von Wohlstand als Lebensqualität mit entsprechend anderen Indikatoren.

Den beschriebenen Wandel zu bewerkstelligen ist tatsächlich eine Generationenaufgabe. Dafür tragen die wohlhabenderen Länder schon aus Eigeninteresse eine besondere Verantwortung.

Ich möchte dies abschließend an einer Parabel verdeutlichen, die einer freiheits­orien­tierten Nachhaltigkeitstransformation in einer begrenzten, vollen Welt als Wegweiser diesen kann:  

In einer Wüste sind zehn Personen, die zusammen einen Wasserkanister haben, von dem bereits zwei Drittel der ursprünglichen Menge leer getrunken sind – und zwar mehrheitlich von drei der zehn Personen.

Nun streiten die zehn heftig darüber, wie der verbliebene Rest gerecht aufzuteilen ist.

  • Die genannten drei sind bestenfalls dazu bereit, die verbliebene Menge zu gleichen Teilen aufzuteilen, die anderen sieben empfinden dies als ungerecht und fordern einen entsprechend höheren Anteil.
  • Sie streiten und streiten und können sich auch nach längeren Debatten nicht einigen. Inzwischen ist so viel Zeit vergangen, dass die Wasservorräte schwinden, ohne dass es zu einer einvernehmlichen Lösung kommt.

Wäre es daher für alle zehn nicht besser, diesen Streit zu beenden und eine andere Perspektive einzunehmen. Sie könnten sich darauf verständigen, gemeinsam einen Ausweg zu suchen und sich auf den Weg zu machen, um möglichst schnell die nächste Oase zu finden, in der Wasser nicht mehr knapp ist. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Oase für eine dekarbonisierte Wirtschaft steht.

  • Die drei, die bisher das meiste Wasser verbraucht haben, und deshalb über mehr ökonomische, technologische und politische Fähigkeiten verfügen, tragen dafür eine besondere Verantwortung. Sie sollten deshalb mutig vorangehen und eine Pfadfinderrolle übernehmen.
  • Sie müssen allerdings sicherstellen, dass die sieben anderen ihnen auch vertrauen, dass alle auf diesem Weg mitgenommen werden und alle die Oase auch erreichen.

Mir ist bewusst, dass diese Parabel notwendigerweise verkürzt. Sie macht aber deutlich, wie sehr wir in einer begrenzten und immer heißeren Welt voneinander abhängig und zu einer weltweiten Schicksalsgemeinschaft geworden sind. 

Die aufgezeigte Perspektive mag angesichts der multiplen Krisen unserer Tage utopisch erscheinen. Ich möchte allerdings von einer konkreten Utopie sprechen. Der Philosoph Ernst Bloch hat diese Kategorie in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus und in Abgrenzung von einer abstrakten Utopie eingeführt, um damit zu unterstreichen, dass eine solche Utopie konkret erreichbar und daher realistisch ist.

  • Auch wenn sie nicht sofort und wohl auch nicht in allen Details zu verwirklichen sein wird, ist sie angesichts der gewaltigen Herausforderungen ohne Alternative. Es wäre schon viel erreicht, Schritt für Schritt die Weichen in die richtige Richtung zu stellen.
  • Dazu braucht es politische Führungskraft und eine breite Allianz gesellschaftlicher Kräfte, die bereit sind, diese konkrete Utopie (aus Überzeugung und freien Stücken) mitzutragen und politisch einzufordern, auch gegen vielfältige Widerstände.
  • Dies erfordert nichts weniger als „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“, wie es bereits Max Weber vor mehr als 100 Jahren in ähnlich unruhigen Zeiten formuliert hat.
  • Wenn wir uns dieser Aufgabe entziehen, würden wir unsere Freiheit aufs Spiel setzen, was einer Kapitulation gleich käme.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Interesse!

 

[1] Befragungen des Allensbach-Instituts https://www.welt.de/politik/deutschland/article233260763/Allensbach-Umfrage-Freiheitsgefuehl-der-Deutschen-nimmt-deutlich-ab.html und repräsentative Umfrage des Marktforschungsinstituts Forsa unter Führungskräften der deutschen Wirtschaft https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/nachhaltigkeit-rueckt-bei-unternehmen-in-den-hintergrund-umfrage-a-f581b7d1-65e1-4402-98e2-dbbed2ad56da vom September 2022.