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Stadtfreiheitstag 2021 - Festrede von Prof. Dr. Ulrike Ackermann

Freiheit in der Krise?
Festrede von Frau Prof. Dr. Ulrike Ackermann beim Stadtfreiheitstag 2021

-Es gilt das gesprochene Wort-

Vielen Dank, liebe Frau Oberbürgermeisterin Maltz-Schwarzfischer für diese Einladung zu Ihrem Stadtfeiertag, um hier über die Freiheit zu sprechen, in dieser freiheitsliebenden und geschichtsträchtigen schönen Stadt. Erlauben Sie mir eingangs eine persönliche Bemerkung: Mit Regensburg verbindet mich ein sehr warmes Gefühl. Meine Großeltern und meine Mutter, sowie ihre Geschwister haben in Neutraubling nach der großen Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen nach dem Krieg eine neue Heimat gefunden. Ich war als Kind oft in den Ferien bei ihnen. Und habe sehr schöne Erinnerungen an Regensburg. Besonders an den Kornmarkt, zu dem mich mein Großvater öfters mitnahm, und schöne Schiffsfahrten auf der Donau. Umso größer war meine Freude über diese Einladung – es ist mir eine große Ehre, hier zu Ihnen sprechen.

Es sieht zur Zeit nicht rosig aus für die Freiheit, weltweit gerät sie unter immer stärkeren Druck: Die Zahl der demokratisch regierten Länder sinkt; und stattdessen haben autoritäre Regimes Aufwind. Der über viele Jahrzehnte als unumkehrbar gefeierte Fortschritt in Richtung Freiheit, Demokratie, soziale Marktwirtschaft und Universalisierung der Menschenrechte ist inzwischen wieder rückläufig. Bereits 2018 hatte das Freedom House in Washington in seinem jährlichen weltweiten Freedom-Index-Bericht gemahnt, dass „die Demokratie ihre schwerste Krise seit Jahrzehnten erlebt“ und zahlreiche Länder in aller Welt einen drastischen Rückgang der Freiheit erfahren hätten. Das hat sich im Jahr 2021 keineswegs gebessert, wie auch andere internationale Erhebungen zu Freiheit und Demokratie bestätigen.

Längst sind also die Zeiten vorbei, in denen man nach dem erfolgreichen Sieg von Demokratie und Freiheit über den Kommunismus 1989 davon ausging, das westliche Erfolgsmodell würde sich in der ganzen Welt durchsetzen und sie friedlicher, freier und wohlhabender machen. Die tragenden Elemente liberaler Ordnungen, also Demokratie, freie Marktwirtschaft, Rechtsstaatsprinzip, die Gewährung der Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat sowie als Schutz- und Teilhaberechte würden sich weltweit etablieren.

Stattdessen: immer noch Krieg in Syrien, zerfallende und gescheiterte Staaten in der gesamten arabischen Welt, missglückte Revolutionen, die die alten Herrscher vertrieben, aber Islamisten an die Macht brachten, blutige Stammeskriege und Autokratenherrschaft auf dem afrikanischen Kontinent, gescheiterte westliche Interventionen und nachfolgende kopflose Rückzugsgefechte, wie jüngst in Afghanistan – mit der Folge eines immensen Migrationsdrucks auf Europa. Der Westen als geopolitische Ordnungsmacht, angeführt von den USA, erodiert. Während dessen schickt sich die hochmoderne Diktatur China an, mit weltumspannenden ökonomischen und geostrategischen Projekten wie der Seidenstraße das entstandene Vakuum zu füllen. Lange Zeit waren die Menschenrechte und die Verbreitung von Demokratie Maßstäbe für die US-Außen- und Bündnispolitik. Das ist vorbei. Die bisherige Weltordnung mit Amerika als ordnender, westlicher Führungsmacht, löst sich auf. Bereits Barack Obama leitete einen Paradigmenwechsel in der amerikanischen Außenpolitik ein. Er verabschiedete sich von der Rolle des „Weltpolizisten“ und lockerte die lange währende transatlantische Bindung zu Europa. Donald Trump verstärkte dies mit seiner Politik der Unberechenbarkeit und der Absage an multilaterale Kooperationen. Doch auch der demokratische Präsident Joe Biden setzt mit seiner Hinwendung zum indopazifischen Raum, weg von Europa, diese Politik fort.

Die westliche Nachkriegsordnung mit den USA als Garant für die Sicherheit der Europäer ist zu Ende. Europa hat seinen Schutzpatron schon länger verloren, aber immer noch keine gemeinsame Verteidigungspolitik oder geschützte Grenzen.

Allseits beobachten wir den Aufstieg neuer Großmächte mit ihren autoritären Führern, die Frauen ebenso verachten wir Homosexuelle und dem liberalen Ordnungsmodell einen autokratischen Staatskapitalismus entgegensetzen. Zugleich sind die wirtschaftliche Integration und das Wachstum weltweit ins Stocken geraten.

Für Beunruhigung bei Bürgern wie auch bei Politikern sorgt ein weltweiter politischer Desintegrationsprozess, der an den Grundfesten auch ehemals stabiler Demokratien nagt und Populisten aller Couleur auf die Straßen und in die Parlamente treibt. Die politische Vision einer liberalen Weltordnung stand nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Agenda. Seit geraumer Zeit wird sie von autokratischen Herrschern attackiert, gerät aber auch von innen unter Druck. Diese „neue Weltunordnung“ (Gujer 2018) beschert uns allen eine zunehmende Verunsicherung.

Auch der alte Westen, das ehrwürdige Europa, hadert mit sich selbst und kommt aus den wirtschaftlichen und politischen Krisen nicht heraus – von Einigkeit keine Spur. Seit ihrer Gründung stand die EU noch nie vor solch großen Schwierigkeiten – von den langfristigen Folgen des Brexits gar nicht zu reden. Populisten sind in einigen Mitgliedstaaten an die Macht gelangt; eine neue Spaltung zwischen Ost und West durchzieht inzwischen den europäischen Raum. Mit der geopolitischen Erosion des Westens ist ganz offensichtlich auch dessen normative Werteordnung in eine tiefe Krise geraten. Westliche Werte und der darin gründende Lebensstil werden nicht nur von außen, sondern auch von innen bedroht.

Neben äußeren Bedrohungen lauern im Westen also auch innere Gefahren, wenn der Konsens über das eigene Selbstverständnis weiter bröckelt. Lange Zeit galten die Ideen der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 sowie die darin gründende Erklärung der Menschenrechte als normatives, kulturelles, transatlantisches Projekt.

An den Krieg der Islamisten gegen uns und den von Moskau betrieben ideologischen Kampf gegen den westlichen Liberalismus haben wir uns inzwischen gewöhnt. Doch wenn mitten in Europa die Zeiten der „illiberalen Demokratie“ (Viktor Orban) ausgerufen werden, ist Besorgnis angebracht. Ausgerechnet in Ländern, die während der friedlichen Revolutionen 1989 für die Freiheit gekämpft und die Transformation vom Kommunismus zur Demokratie erfolgreich durchlaufen haben wie Ungarn, Tschechien oder Polen, nehmen autokratische Führer ihren Bürgern die frisch errungenen Freiheiten wieder weg und zersetzen den jungen Rechtsstaat. Wenn der Universalismus der Menschenrechte, Säkularismus, Individualismus und Antitotalitarismus nicht nur von Populisten, sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus infrage gestellt werden, läuft etwas gründlich schief.

Was sind diese freiheitlichen Werte und der darin gründende Lebensstil, die heute so heftig attackiert werden? Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Marktwirtschaft, Freihandel, Achtung der Menschenrechte, die Trennung von Staat und Kirche bzw. von Gesellschaft und Religion, Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit, Wissenschaftsfreiheit, Religionsfreiheit und der Schutz von Minderheiten, des weiteren die Pluralität der Lebensstile, sexuelle Selbstbestimmung und die Freiwilligkeit von Bindungen, Freizügigkeit und Offenheit als Gegenkonzept zu einer geschlossenen Gesellschaft. Toleranz zählt ebenso zu diesem Kanon wie die Skepsis gegenüber alten Gewissheiten oder das Recht auf Irrtum. Nicht zuletzt gehört dazu die diesseitige Lebenslust im Unterschied zu religiöser Jenseitigkeit und die individuelle Suche nach dem Glück. Es ist vor allem die Wertschätzung des Individuums gegenüber dem Kollektiv, aus welcher sich das Prinzip der Selbstverantwortung und die Chance zur Selbstbestimmung ableiten. Über Jahrhunderte ist es in mühseligen Kämpfen gelungen, im Westen diese Werte in Verfassungen zu verankern. Sie prägen unsere Zivilisation, unsere sozialen Ordnungen, unsere Lebenswelt und unseren Lebensstil, den anspruchvollsten, den wir je hatten.

Es geht im Folgenden um die aktuellen Gefährdungen von Demokratie und Freiheit und die Paradoxien, mit denen wir hier, in unserer liberalen Gesellschaft zu kämpfen haben. Der Zusammenhalt einer Gesellschaft, eine wehrhafte Demokratie und die Freiheit ihrer Bürger brauchen unverhandelbare Prinzipien. Um sie zu verteidigen, benötigen wir deshalb einen unerschrockenen Blick auf die inneren Widersprüche und Ambivalenzen, die uns die Freiheit beschert, sowie politische und soziale Konfliktbereitschaft, um offene, in die Zukunft gerichtete Debatten ohne Tabus führen zu können. Nur so können wir überzeugende Antworten auf die aktuellen Herausforderungen finden.

Eine Zeit lang dachten wir, die Bedrohungen der Freiheit für unsere westlichen, demokratischen Gesellschaften kämen nur von außen: von China, das seine hegemonialen Ansprüche immer aggressiver weltweit umsetzt, oder von Russland, das seine neoimperialen Ambitionen vehement verfolgt und versucht, Europa und die USA mit seinen aggressiven Cyber-Interventionen und Fake-News-Kampagnen zu spalten und zu destabilisieren.

Vor der Klima-Krise scheint all dies zu verblassen. Und natürlich die weltweite Seuche Corona, die uns ganz neu herausfordert und  vieles in den Hintergrund treten läßt.

Mit der Corona-Krise und den Versuchen, sie erfolgreich zu managen, machen wir eine Art Zeitreise ganz anderer Art zurück: Grenzen waren im Lockdown wieder dicht, der öffentliche Raum leergefegt, das gesellschaftliche Leben stillgestellt, der freie Austausch von Personen, die Versammlungs-, Bewegungs- und Reisefreiheit waren ausgesetzt und werden wwomöglich erneut eingeschränkt. Die Wirtschaft lag danieder. So lebte es sich in der geschlossenen Gesellschaft hinter dem Eisernen Vorhang vor 1989. Viele erfahren erstmals in ihrem Leben solch drakonische Einschränkungen ihres Lebensstils und ihrer individuellen Freiheit. Die staatlich-administrativ verfügten rigiden Maßnahmen zur Bekämpfung der weltweiten Seuche flankieren eine Krise, wie sie die westlichen Demokratien seit Ende des 2. Weltkriegs nicht erlebt hatten. Und deren Folgen völlig ungewiss sind, ökonomisch, politisch, gesellschaftlich und die Zukunft der EU betreffend. Zudem beschert uns die Corona-Krise und die Versuche ihrer Bewältigung einen immensen Paternalisierungsschub. Der Staat schwingt das Zepter und die Rückkehr zu Eigenverantwortung und Bürgersinn gerät immer wieder ins Stocken.

Es ist neben der Klimakrise der größte Stresstest, den die liberalen Gesellschaften seit dem Ende des 2. Weltkriegs zu bestehen haben. Angesichts der Wucht der bedrohlichen Pandemie verblassen offensichtlich die jüngst vergangenen Krisenerfahrungen und Debatten darüber: Finanzkrise, Euro-Schuldenkrise, die islamistischen Terroranschläge, die verheerenden Folgen des Syrien-Krieges, die alte und erneut aufflammende Migrationskrise, der Brexit, die Krise der Volksparteien und der Erfolg rechter und linker Populisten in ganz Europa und den USA stellen die liberalen Demokratien und ihre Institutionen inzwischen auf eine harte Probe. Populisten spielen gerne mit Katastrophen- und Untergangszenarien und werben für radikale Lösungen. Daran hat auch die Corona-Krise nichts geändert. Schaut man sich die Zusammensetzung der Demonstrationen gegen die staatlichen Schutzmaßnahmen und Freiheitsbeschränkungen an, findet man auch dort illustre Querfronten zwischen links und rechts. Diese politischen Ränder eint ein ausgeprägt antiwestliches Ressentiment: Die Skepsis gegenüber der Globalisierung, durchsetzt von Antikapitalismus, Europaskepsis, der Wunsch nach starker Führung und einer harten Hand, das Misstrauen gegenüber der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und stattdessen der Wunsch nach direkter Volksherrschaft und die Lust an der Revolte. Sie kritisieren den Individualismus und feiern das Kollektiv. Es handelt sich dabei auch um einen Aufstand gegen die globalisierte Moderne und die von ihr bescherte grenzenlose, konfliktreiche Unübersichtlichkeit der Welt. Die Revolte richtet sich gegen das kosmopolitisch-urbane, global vernetzte sogenannte Establishment. Umgekehrt kann man in den europäischen Hauptstädten und amerikanischen Metropolen beobachten, wie die Funktionseliten und die politische Klasse teils ihre Bodenhaftung eingebüßt haben. Deshalb sind es eben nicht nur populistische Ressentiments, Skepsis gegenüber Einwanderung und Fremdenfeindlichkeit, die die europäischen Gesellschaften und ihre gewachsenen sozialen Ordnungen erschüttern. Es sind ganz neue und reale Probleme, nicht etwa nur diffuse Ängste der Bevölkerung, neue Verwerfungen und soziale Spaltungen, die unsere bisher liberalen und offenen Gesellschaften samt ihrer demokratischen Institutionen im Kern berühren.

Die Zeiten eines ungebrochenen Fortschrittsoptimismus, der Freude und des Stolzes über die lang erkämpften freiheitlichen Errungenschaften sind vorbei. Es gibt keinen Automatismus, dass das Zusammenspiel von Demokratie und Marktwirtschaft in jedem Fall eine Garantie des weltweiten Fortschritts ist. Fortschritt ist kein Naturgesetz. Die Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen, die tiefgreifenden Folgen der Globalisierung und des Klimawandels und der digitalen Revolution sind unterschätzt worden. So stehen die wachsenden Selbstzweifel westlicher Gesellschaften in Korrelation zur allzu lange gepflegten Selbstgewissheit über die eigene Erfolgsgeschichte. Die alte politische Klasse hat auf diese neuen Herausforderungen bisher keine überzeugenden Antworten gefunden. Das können wir deutlich am Niedergang und dem zerrütteten Zustand der CDU beobachten. Die Kluft zwischen den alten, staatstragenden Volksparteien und der Bevölkerung ist im Laufe der letzten Jahre immer größer geworden. Die großen gesellschaftlichen Debatten werden heute nicht aus der politischen Mitte heraus geführt, sondern entzünden sich oft von den Rändern her und münden fast umgehend in Polarisierungen. Obwohl das ideologische Rechts-Links-Schema überwunden schien, greift es immer noch.

Ins Zentrum der erneuten Rechts-Links-Konfrontation ist nun vor allem der Streit über das Selbstverständnis der Nation, ihre Grenzen, ihren Zusammenhalt, gesellschaftliche Minderheiten und ihr Umgang mit ihnen gerückt. Die Polarisierungen in diesen Debatten sind flankiert von einem wachsenden Moralisierungsdruck. Denkverbote und ideologische Scheuklappen machen eine argumentative und rationale Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Krisen und Herausforderungen immer schwieriger.

Die Selbstzweifel an der Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation, bis hin zum westlichen Selbsthass, werden immer lauter. Sie sind nicht nur rechten und linken Rändern eigen, sondern zunehmend in Universitäten, Redaktionsstuben und Kulturinstitutionen beheimatet, wie der Streit über Rassismus und Kolonialismus zeigt. Die Kritik an Kapitalismus, Globalisierung und Patriachat wird schriller. Und dies in einer Situation, in der die über Jahrhunderte mühsam errungenen westlichen Freiheiten und Lebensweisen weltweit unter immer stärkeren Druck geraten sind.

Die Gesellschaften in Europa und den USA zersplittern seit einigen Jahren in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen und mit ihrer teils fundamentalistischen Identitätspolitik für eine weitere Fragmentierung der Gesellschaft sorgen.

Im Zuge der digitalen Revolution haben diese Prozesse der Kollektivierung und Blasenbildung immens zugenommen. Die alte bürgerliche Öffentlichkeit verflüchtigt sich zunehmend zwischen Blogs und Plattformen im Internet, zwischen Informationsblasen, Shitstorms und sich selbst aufheizenden Echoräumen. Blogs, ihre Fans und Follower schaffen immer weitere, sich selbst bestätigende Milieus im Netz, die sich kollektiv abschotten, uniformer werden und politischer Lagerbildung Vorschub leisten. Paradoxerweise sorgen daher die Gruppenbildung oder besser Kollektivierungsprozesse im Netz dafür, dass die politische Vielfalt der Meinungen und Positionen schrumpft. Techniken der Schwarmbildung und politische Polarisierungsprozesse sind dabei eng miteinander verschränkt. Wir können von einem regelrechten Tribalismus sprechen,  und beobachten Stammeskämpfe um Deutungshoheit, die mit einer aggressiven Verrohung der gesamten Kommunikation einhergehen. Und die politische Meinungsfreiheit ist in Deutschland in den letzten Jahren immer mehr unter Druck geraten. 2021 waren laut des Allensbacher Instituts für Demoskopie nur noch 45 Prozent der Bevölkerung der Meinung, man könne sich frei äußern und 44 % waren der Meinung, es ist besser, vorsichtig zu sein. Das ist ein alarmierendes Zeichen.

Was passiert hier eigentlich? Was sind die Triebfedern, wenn plötzlich Bilder in öffentlichen Museen entfernt werden, weil sich eine gesellschaftliche Gruppe beleidigt fühlen könnte? Bücher umgeschrieben werden, Hochschulfassaden von missliebigen Gedichten gesäubert werden? Denkmäler gestürzt werden? Es sind Eingriffe zugunsten eines vermeintlich gerechten, politisch korrekten Regimes, dass es jeder Ethnie, jedem Geschlecht und jeder Religion recht machen will. Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Einheitlichkeit, nach Reinheit und Reinigung hat sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgebreitet.

Wir haben alle die Bilder in Erinnerung, wie im Zuge der weltweiten Bewegung „Black lives matter“ lautstark gegen Rassismus, Kapitalismus und Kolonialschuld demonstriert und Kolumbus oder Churchhill vom Denkmalsockel gestürzt wurden. Ja, es gibt Rassismus und Minderheiten werden teil immer noch diskriminiert. Ja, wir müssen uns mit den Verbrechen des Kolonialismus auseinandersetzen. Und es ist gut, wenn Bürgerinnen und Bürger dies benennen und gegen Ungerechtigkeit und Fremdenfeindlichkeit protestieren. Doch dieser antirassistische Furor, den wir seit geraumer Zeit beobachten und die Cancel Culture erinnern in ihrer Rigidität an den Tugendterror der Jakobiner in der Französischen Revolution, die mit allem Alten brechen und das Vergangene radikal ausmerzen wollten. Bereits seit einigen Jahren tobt dieser Kulturkampf, der immer aberwitzigere Züge annimmt. Doch der Protest ist längst aus dem Ruder gelaufen und erhebt besonders im akademischen und kulturellen Feld Forderungen, die am Fundament und Selbstverständnis unserer freiheitlichen Ordnung rütteln. Sie knüpfen an ideologische Prämissen an, die schon länger die Selbstzweifel an der Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation schürten.

Die Identitätspolitik von rechts und die extremistisch militanten Umtriebe der „Identitären Bewegung“ in ganz Europa werden schon länger als Bedrohung unserer Freiheit wahrgenommen. Sie favorisieren einen Kollektivismus, der sein Heil in der ethnischen Homogenität der Volksgemeinschaft sieht. Und auch der Gefahr, die vom identitären politischen Islam ausgeht, sieht man inzwischen genauer ins Auge. Gerade, nach dem etwa Samuel Paty, ein Lehrer, auf offener Straße in Frankreich enthauptet wurde. Auch wenn viele Linke die Kritik am Islam fortwährend mit dem Vorwurf des „antimuslimischen Rassismus“ und der Islamophobie verhindern wollen, weil sie darin die „Religion der Armen, Unterdrückten und Diskriminierten“ sehen und den Islamismus verharmlosen.

Doch seit einigen Jahren hat sich auch eine Identitätspolitik von links an den Hochschulen fest etabliert und in der Folge maßgeblichen Einfluss im gesellschaftlichen Mainstream gefunden. Sie stellt mit ihrem Kollektivismus ebenso wie die Identitätspolitik der Rechten und der identitäre Islam die universalistischen Prinzipien der Aufklärung in Frage und ist im Kern antiliberal.

Es begann im Zuge der Neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren durchaus emanzipatorisch. Völlig zurecht schlossen sich Frauen und soziale Minderheiten zusammen, um für ihre Rechte einzutreten. Sie machten auf historische und aktuell bestehende Diskriminierungen aufmerksam und begehrten gegen Sexismus und Rassismus auf. Doch Zug um Zug breitete sich mit dem Lob der kulturellen Vielfalt und Differenz ein ideologisch gewordener Multikulturalismus aus, der die freiheitlichen Errungenschaften der westlich-europäischen Zivilisation zunehmend relativierte.

Immer neue soziale Gruppen, die sich als Opfer von Ungerechtigkeit und gesellschaftlicher Benachteiligung verstanden, entwickelten ihre jeweils unterschiedlichen Opfernarrative und forderten besondere Rechte für sich. Eine regelrechte Opferkonkurrenz entstand: wer wurde und wird am schlechtesten von der Mehrheitsgesellschaft behandelt und darf am meisten verlangen? Ihr jeweiliger Bezugspunkt ist eine kollektive Identität, die abgeleitet wird aus realer oder vermeintlicher Benachteiligung, gemeinsamer Leiderfahrung, Unterdrückung oder Verfolgung, die teils Jahrhunderte zurückliegen: Frauen, sexuelle Minderheiten, die LGBT-Community, Migranten, ethnische und religiöse Minderheiten. Es geht dabei um Wiedergutmachung und Kompensation erfahrenen Leids und um die Gewinnung sozialer und kultureller Wertschätzung. Verlangt wird die Gleichbehandlung und die Einführung von Quoten. Entstanden ist daraus über die Jahrzehnte eine ausgeprägte Identitätspolitik, die ausdrücklich kollektive religiöse, kulturelle, sexuelle und ethnische Zugehörigkeiten ins Zentrum stellt. Nicht für Individuen werden Rechte eingefordert, sondern für die jeweiligen Opferkollektive, die alle als partikulare Einheiten gleichrangig behandelt werden wollen. Immer mehr Sonderrechte werden inzwischen beansprucht, um die bisherige gesellschaftliche und historische Benachteiligung zu kompensieren.

Aus den ehemals emanzipatorischen Bestrebungen sind identitäre Communties entstanden, die ihre Anliegen ideologisiert haben und einen lautstarken moralisierenden Feldzug gegen die sogenannte Mehrheitsgesellschaft führen. Sie treiben damit Polarisierungen voran, die den Zusammenhalt der Gesellschaft, der seit Jahren bröckelt, weiter schwächen. Wenn ständig zudem vornehmlich in Täter- und Opferkategorien gedacht wird, geht das oft an der Realität vorbei und verhindert sachliche Auseinandersetzungen.

Inzwischen gerät neben der Meinungsfreiheit auch die Wissenschaftsfreiheit immer stärker unter Druck. Rede-, Denk- und Diskussionsverbote werden propagiert oder Trigger-Alarm ausgegeben, weil Studierende durch sogenannte Mikro-Aggressionen aufgrund schwer verdaulicher Lehrinhalte und harter Fakten vermeintlich traumatisiert werden könnten. Trigger bedeutet all das, was Menschen, die einer nicht dominanten Gruppe angehören, möglicherweise verstören könnte und kommt ursprünglich aus der Traumaforschung. Der britische Historiker Niall Ferguson, der viele Jahre an angelsächsischen Eliteuniversitäten lehrte, beobachtet, dass Studenten zunehmend ängstlicher werden, weil sie womöglich mit unliebsamen Ideen konfrontiert werden könnten. Studenten seien zu „Schneeflocken“ geworden, die man vor vermeintlich gefährlichen Gedanken beschützen müsse. Als potentiell verstörende Lektüre wurde z. B. an einer Universität in Großbritannien die Arbeit mit Passagen aus der Bibel abgelehnt. An der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe Universität wurde 2017 der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt in einer Vortragsreihe zum Thema Migration und Integration wieder ausgeladen, weil Tumulte befürchtet wurden. Einer der Professoren, die den Protest organisiert und die Ausladung von Wendt verlangt hatten, führte unter großem Beifall in einer öffentlichen Diskussion an der Universität über Meinungsfreiheit an, er sehe sich und vor allem die Studierenden außerstande und überfordert, mit einem „Rassisten“ zu debattieren. Aber ist nicht die Universität gerade der Ort, wo Studierende das Argumentieren und Debattieren mit anders Denkenden lernen müssen als zukünftige gesellschaftliche Leistungsträger?

Einen ähnlichen Furor löste 2019 die Konferenz „Das islamische Kopftuch – Symbol der Würde oder Unterdrückung?“ aus. Eine Studentengruppe versuchte vorab mit Beschimpfungen und Drohungen in sozialen Netzwerken, die Konferenz zu verhindern und verlangte die Absetzung der Professorin, die die Konferenz auf den Weg gebracht hatte.

Auch in Großbritannien und Frankreich hat sich – wie schon lange in den USA - der Antikolonialismus an den Universitäten fest etabliert. Die akademische Linke wird immer stärker. In London forderten Studierende an der School of Oriental and African Studies eine radikale Dekolonisierung des Lehrplans in Philosophie. Denn jeder Lehrplan, der europäischen Denktraditionen eine größere Bedeutung beimesse als der Überlieferung anderer Kulturen sei rassistisch. In ihren Augen spiegele er nur den Wertehorizont des europäischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts wider. Es ist für die Studenten eindeutig, wer die Täter sind: die alten weißen, heterosexuellen Männer, die Europäer und letztlich die Westler überhaupt. Auch Bach und Beethoven sollen zugunsten nicht weißer Musikerinnen vom Sockel geholt werden.

Inzwischen können wir im akademischen Feld eine beunruhigende Politisierung vor allem der Sozial- und Geisteswissenschaften beobachten. Wer sich nicht an den neuen Kanon hält oder ihm widerspricht, wird schnell des Rassismus und Sexismus geziehen. Rigide wird die Deutungsmacht durchgesetzt. In militanter Manier, begleitet von shitstorms aus der Anonymität des Internets heraus, gehen Studierende immer häufiger gegen unliebsame Professoren vor.

Es geht darin vor allem um Macht, Diskursmacht und Sprache, um die krude Aufteilung der Gesellschaft in Opfer und Täter, Unterdrückte und Mächtige, Privilegierte und Nichtpriviliegierte. Die praktische Umsetzung dieses Ansatzes an den amerikanisch-kanadischen und später auch europäischen Hochschulen war die "Affirmative Action". Sie wollte proaktiv benachteiligte Minderheiten fördern: zuerst wurde ihre Selbstorganisation unterstützt und dann etablierte sich zunehmend eine Forschung über kollektive Identitäten, die sich aus Geschlecht, Ethnie oder Religion ableiten. Inzwischen ist diese Politik weitgehend durchgesetzt. Im Zentrum steht das Kollektiv, seine leidvolle Geschichte der Unterdrückung und seine vorgebliche kulturelle Essenz – auch kultureller Essentialismus genannt. Es läuft der Wertschätzung des Individuums, jenseits von Geschlecht, Ethnie oder Religion, sukzessive den Rang ab – ein Paradigmenwechsel, der es in sich hat und weit über den Diversitäts- und Opferdiskurs an den Hochschulen hinausreicht.

Dieser Paradigmenwechsel hat längst Eingang in die Gesellschaft und Politik gefunden und produziert eine gesellschaftliche Dynamik, die spaltet und polarisiert. Neben der Moralisierung, die die Identitätspolitik betreibt, ist mindestens ebenso problematisch ihr Essentialismus. Dabei wird einer Kultur, einer Ethnie, einem Geschlecht oder einer Religion ein besonderer wesenhafter Kern zugeschrieben, der die Identität der Gruppe ausmache und deshalb zu schützen sei. Damit unterscheidet sich die eigene Gruppe von anderen Menschen und setzt sich von der Mehrheitsgesellschaft ab. Sie will rein und unvermischt bleiben. Dieses Besondere, zum Beispiel die Hautfarbe, dürfe nun keineswegs von anderen Personen oder Kulturen angeeignet werden. Verwerflich ist dann etwa, wenn in der Onlinekommunikation schwarze Emojis von Weißen verwendet werden. Scharf kritisiert wird deshalb auch, wenn eine weiße Schauspielerin auf der Bühne die Rolle einer Schwarzen übernimmt. Begründung: dies sei das historisch bekannte Blackfacing und deshalb  rassistisch. Der Rassismus-Vorwurf ist inzwischen inflationär im Gebrauch. In einer Hamburger Kindertagesstätte werden in der Karnevalszeit bei Kindern die beliebten Indianerkostüme geächtet. Begründung: Rassismus und Beleidigung der Ersteinwohner der USA, zudem die verwerfliche kulturelle Aneignung. Die Chefin der Grünen, Annalena Baerbock, hat sich jüngst dafür entschuldigt, in einem Interview über Rassismus das sogenannte "N-Wort" benutzt zu haben. "Das war falsch und das tut mir leid", schrieb Baerbock auf Twitter. Die Verwendung dieses „bösen“ N-Wortes in einer Erläuterung zu Rassismus vor Studenten hatte den bekannten Wissenschaftsredakteur Donald McNeil seinen Job bei der New York Times gekostet. Die Sprach- und Diskurspolizei ist inzwischen ziemlich umtriebig, auch bei uns.

Wenn Geschlecht und ethnische Herkunft als essentielle Wesensmerkmale dienen, die die jeweilige Identität ausmachen, ist diese Identitätspolitik aber selbst rassistisch und biologistisch. Sie stellt die universalistische Perspektive, die auf die Freiheit und die Rechte des Individuums gerichtet ist, massiv in Frage: nämlich die Errungenschaft, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, gerade unabhängig von Rasse, Geschlecht und Religion. Gerade diese „Farbenblindheit“ beschwor 1963 der Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King in seiner berühmten Rede „I have a Dream.“ Die Diktaturerfahrungen im letzten Jahrhundert haben dazu geführt, dass in der Erklärung der Menschenrechte ausdrücklich die individuellen Grundrechte verfasst sind und nicht Kollektivrechte. Zuweilen hat man den Eindruck, wir würden auf eine frühere Stufe unserer Entwicklung regredieren, weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und der Hordenbildung, ein besorgniserregender Rückfall in den Tribalismus. Der Aufklärung ging es um die Selbstermächtigung des Individuums, seine Emanzipation aus kollektiven Zwängen. Heute geht es einer sehr erfolgreich auftretenden aktivistischen Minderheit weniger um Freiheit und Menschenrechte aller in einem Gemeinwesen. Im Zentrum ihrer Forderungen stehen statt dessen die je subjektiven Diskriminierungserfahrungen und die daraus abgeleiteten Gruppenrechte, mit dem Ziel, Diskursmacht und gesellschaftliche Macht zu erlangen und die „Mächtigen“ der sogenannten Tätergesellschaft zu entmachten.

Sie unterstellen einen tiefsitzenden, unabänderlichen strukturellen Rassismus und Weißsein als ein Privileg, das mit historischer Schuld beladen ist. Dieser Kollektivschuld können Weiße demnach nicht entrinnen. Ihre Hauptsünden sind der Kolonialismus, der Kapitalismus und das Patriarchat. Deshalb breitet sich die sog. Cancel Culture und Woke Culture aus, die gepredigt wird von den „Erwachten“, die in fast religiöser Manier von den vermeintlichen Tätern Buße und Läuterung verlangen. Inzwischen steht schon der Aufklärer Immanuel Kant wegen Rassismus am Pranger, weil er in seinen Frühschriften wie andere seiner Zeitgenossen die weiße „Race“ als vollkommenste der Menschheit ansah. Erschreckend ist zudem die Rigidität und Wut, die den Wunsch nach Reinigung begleiten: Sprache, Geschichte, Bücher, Plätze, Erinnerung sollen von allem Bösen gesäubert werden. Das ursprüngliche Ansinnen ist inzwischen totalitär geworden.

Der antiplurale Wunsch nach Eindeutigkeit erstickt viele Debatten. An den Hochschulen wie auch im gesellschaftlichen Diskurs wird eine sachlich-fachgerechte Auseinandersetzung zunehmend von Moralisierung und Empörung überlagert. Die Grenzen des Sagbaren werden immer enger gezogen. Weniger das Argument, sondern die Herkunft, d.h. Hautfarbe, Geschlecht, Religion zählen und die jeweilige Betroffenheit und Leiderfahrung des Sprechenden. Die gesellschaftliche Spaltung wächst, wenn eine Minderheit an den Hochschulen, die inzwischen mächtig in die Gesellschaft hineinwirkt, ihre politische Agenda gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen und sie umerziehen will. Denn diese Mehrheit lehnt  die Genderisierung der Sprache und die neuen Gebote der Political Correctness ab.

Deshalb ist mutiger Bürgersinn gefragt, auch der Mut zu Widerspruch, wenn es unbequem ist. Kollektivismus und Konformismus bedrohen unsere, seit der Aufklärung, mühsam errungenen Freiheiten. Am stärksten werden sie im Moment angegriffen von dem Furor des identitären Fundamentalismus, der von Rechten, Linken und Islamisten gleichermaßen bedient wird. Umso wichtiger ist die Verteidigung unserer Freiheitstraditionen aus der politischen Mitte heraus. Das Zusammenspiel von politischer, wirtschaftlicher und individueller Freiheit hat uns Demokratie und Wohlstand gebracht. Um beides zu erhalten brauchen wir lebendige Debatten ohne Denkverbote und Moralisierung und wieder eine Erweiterung des Mainstreams, der die Pluralität der Meinungen und Interessen umfassender abbildet als bisher. Nur so wird es uns gelingen, über Fehler der Vergangenheit und neue Ideen klug zu streiten, um zu den besten Lösungen zu gelangen. Selbstgewissheit wäre fehl am Platz. Aber ein wacheres Bewusstsein über die Fragilität unserer Freiheiten täte uns gut und würde uns etwas krisenfester machen.

 

Prof. Dr. Ulrike Ackermann

Die Politikwissenschaftlerin und Soziologin gründete 2009 das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung und leitet diese Einrichtung seither als Direktorin. Im Jahr 2008 wurde sie als Professorin an die SRH Hochschule Heidelberg berufen und lehrte dort bis 2014 Politische Wissenschaften mit dem Schwerpunkt „Freiheitsforschung und Freiheitslehre“. Weiterhin etablierte sie 2002 das Europäische Forum an der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, das ebenfalls unter ihrer Leitung steht. Frau Prof. Dr. Ackermann ist Mitbegründerin des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit und eine vielgefragte Rednerin sowie freie Autorin in Funk- und Druckmedien.

Zuletzt veröffentlichte sie das Buch „Das Schweigen der Mitte. Wege aus der Polarisierungsfalle“ (2020)

Weitere Informationen und Veröffentlichungen sind zu finden unter: https://www.ulrike-ackermann.de/