Zum ersten Mal seit Februar 2020 findet am städtischen Gymnasium wieder ein reguläres Konzert statt – ein emotionaler Befreiungsschlag für alle Beteiligten.
Kennen Sie Sisyphos? Der sein Leben lang vergeblich seinen Felsen den Berg hinaufwälzt, nur, damit dieser kurz vor dem Ziel wieder nach unten rollt? Albert Camus beschreibt den bedauerlichen „Mythos von Sisyphos“ in seinem gleichnamigen Essay – wie man aber ausgerechnet beim Schreiben dieses Textes über ein Schulkonzert darauf kommt? Ganz banal: Jeder Musiker fühlte sich seit März 2020 ein wenig wie Sisyphos – enorme Kraftanstrengung, Ziel vor Augen, Auftrittsverbot. Nächster Anlauf, gleiche Frustration. Zwei sehr ernüchternde Jahre lang, eine gefühlte Ewigkeit. Doch, um es in Anlehnung an Camus zu sagen: Es gibt kein Schicksal, welches nicht durch Musik überwunden werden kann.
Am vergangenen Donnerstag und Freitag, jeweils wenige Sekunden nach 19:00 Uhr, war der sprichwörtliche Felsen dann aber auf einmal endlich auf dem Gipfel angekommen: Die Wirkung der Musik vermag ein Menschenherz auszufüllen. Die Herzen der Menschen in der Aula des Von-Müller-Gymnasiums.
Geradezu befreit eröffneten Unterstufenchor (Donnerstag) und Unterstufenorchester (Freitag) die Konzerte – die Fünft- und Sechstklässler standen aus bekannten Gründen zum allerersten Mal für das VMG auf der Bühne. Doch von Nervosität keine Spur, ganz im Gegenteil: Emotional und aussagekräftig trug der Chor bekannte Songs aus Musical und Film, aber auch gesellschaftspolitische Lieder (beispielsweise das schlichte, doch tiefgründige „Lied vom Nichtverstehen“ der Gruppe Maybebop) vor. Das Orchester spannte den Bogen geschickt von Johannes Brahms bis hin zum „Muppet Show Theme“. Jeder Gran dieser Musik, jedes harmonische Aufblitzen in diesem in Klang gehülltes Wohlbefinden ist eine Welt für sich.
In der Folge stellten die rund 150 Schülerinnen und Schüler ein wunderbar abwechslungsreiches Programm vor: Ein fünfköpfiges, neu zusammengestelltes Bläserensemble intonierte das bekannte Thema aus dem Film „Forrest Gump“. Die Big Band zeigte getreu ihrem ersten Stück „Chameleon“ kaleidoskopisches Anpassungsvermögen und schwang sich von Metal („Enter Sandman“ von Metallica) bis hin zu Filmmusik („This Is Me“ aus „The Greatest Showman“), als wäre die musikalische Zwangspause nie gewesen. Darin besteht die unübersehbare Freude des Musikers. Seine Bühne gehört ihm. Auch der Chor erfreute die etwa 300 Zuhörer und -schauer mit Popsongs von Michael Bublé und Tyrone Wells sowie mit einem Stück aus dem Film „Frozen“, der das Publikum in der sommerlich warmen Aula zumindest gedanklich ein wenig auf wohlig kühlende Gedanken brachte. In einem als „Summer Feelings“ getarnten ursprünglichen Weihnachtsstück griff die Concert Band dieses Mindgame der mentalen Erfrischung auf, bevor ein Medley der bekanntesten Melodien aus dem Film „Der König der Löwen“ das Publikum mit in die afrikanische Savanne nahm. Jede Frequenz dieses Klanges, jedes harmonische Aufblitzen in dieser in die Abendsonne gehüllten Aula ist eine Welt für sich. Den furiosen Abschluss bildete das Streichorchester mit mehreren Sätzen aus der „Suite for Strings“, in welcher die Melodien englischer Volksweisen gewitzt in eingängige Klänge eingebettet sind.
Um im Bild zu bleiben: Welch Gipfelsturm der jungen Musikerinnen und Musiker! Welch Befreiung vom bedrückenden Gewälze der vergangenen Jahre! Lange nachwirkend bleibt neben grinsenden Gesichtern, fast vergessener Freude und ehrlicher Euphorie nun also die Erkenntnis, dass die Sisyphos-Arbeit der vergangenen Jahre das menschliche Bedürfnis nach dem Wunderbaren nicht im Geringsten beeinträchtigt hat. Wir müssen uns jeden Musiker als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Text: PaSi