Vorspann des Märchen:
In einer kalten Winternacht bittet ein frierender Hase um Zuflucht. Wenig später folgen ihm ein Fuchs und dann noch ein Bär. Die Tiere versprechen Wanja, untereinander Frieden zu halten.
Neues Ende des Märchens von Paula Bergauer:
In der Früh, in aller Stille, kommt der Fuchs wieder zu Sinne. Benommen blickt er sich um, er lag doch tatsächlich mit einem Hasen, Bär und einem Menschen in einer Hütte.
Es hatte etwas befriedigendes Bär, Hase und Mensch so friedlich schlafen zu sehen. Doch dieser Gedanke wurde schnell von seinem knurrenden Magen vertrieben. Und so wurde aus dem Hasen sein Frühstück: Speichel lief ihm aus dem Maul. Langsam, auf seidigen Pfoten, schlich er sich an und brach dem Hasen mit einem gekonnten Biss das Genick.
Durch das Knacken der Knochen wurde auch sogleich der Bär geweckt, doch der Fuchs war zu beschäftigt den Hasen in Stücke zu zerreißen, um dies zu bemerken. Wegen dem Geruch des Fleisches fiel dem Bären wieder ein, dass der Fuchs ihm letztens Fleisch geklaut hatte. Wütend brummente er und holte mit seiner Pranke aus und traf den Fuchs seitlich. Seine scharfen Krallen verursachten tiefe Schnitte und Blut rann auf den Boden von Wanjas Hütte.
So war nun auch Wanja aufgewacht. Verstört und verängstigt von den Bildern, die sich ihm boten, griff er panisch zu seinem Schießgewehr.
Der Fuchs lag inzwischen als lebloses Fellbündel in der Ecke und der Bär drehte sich zu Wanja um. Der Bär wusste, dass er gegen das Schießgewehr keine Chance hatte und wollte sich schnell auf den Weg nach draußen machen. Er brummte noch einmal in Richtung Wanja, um seine Dankbarkeit auszudrücken, dass er die kalte Nacht in Wanjas warmer Hütte verbringen durfte, doch Wanja verstand das Brummen als Angriffswahrnung und drückte ab.
„Nachdem die Nacht doch so friedlich angefangen hatte, ist es schade, dass sie so enden musste.“, dachte Wanja, während er das Blut von dem Boden schrubbte.
Im Rahmen des Schreibwettbewerbs "L’Chaim: Schreib zum jüdischen Leben in Deutschland!" 2022
Regensburg war im Mittelalter im Gegensatz zu anderen Städten nicht so judenfeindlich. Gewiss hatten die Juden auch in Regensburg ein eigenes Viertel, schließlich brauchten sie einen Bäcker und einen Metzger. Fleisch muss nach jüdischem Glauben erst ausgeblutet seien, bevor man es verarbeiten kann. Und auch das Brot muss rein sein. In Mitten des Viertels stand eine riesige Synagoge.
Alles lief gut, bis die Regensburger sich Geld bei den reichen und wohlhabenden Juden liehen. Dieses konnten und wollten die Regensburger nicht mehr zurückzahlen. Sie begannen die Juden zu verabscheuen und am liebsten hätten Einwohner und Bürgermeister sie aus der Stadt vertrieben. Das ging aber nicht, da die Juden dem Kaiser Steuern bezahlten und dieser sie beschützte. Sobald er aber gestorben war und es kurzzeitig keinen Nachfolger mehr gab, vertrieben die Regensburger die Juden und zerstörten ihre Synagoge. Anstelle dieser bauten sie eine große Kirche, die eigentlich nur halb so groß wurde, wie sie eigentlich geplant war.
Ich versuche mir vorzustellen, wie die Juden sich damals fühlten, als sie aus ihrer Stadt vertrieben wurden, und schon beginnt meine Fantasie mit mir zu spielen:
Ich bin ein jüdisches Mädchen im Alter von 13 Jahren, namens Narzissa. Meine Eltern sind reich, sehr reich. Ich gehe über den Marktplatz unseres Viertels. Und auch, wenn ich eigentlich immer ein unbeschwertes Kind war, dem es an nichts fehlte, mache ich mir jetzt Sorgen. Mein Bauch zieht sich jedes Mal zusammen, wenn ich daran denke. Die christlichen Einwohner unserer Stadt haben sich Geld von uns Juden geliehen und wollen jetzt ihre Schulden nicht zurückzahlen. Die Missachtung gegenüber uns verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Ich habe Angst. Meine Eltern sagen immer, dass der Kaiser ja noch da ist. Er beschützt uns wegen der Steuern, die wir ihm bezahlen müssen. Das mag ja alles sein, aber Grund zur Sorge habe ich trotzdem.
Und schließlich kommt es, wie es nicht anders kommen konnte: der Kaiser stirbt. Nun ereilt uns diese Nachricht auch in Regensburg. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, als ich davon höre.
„Mutter, was passiert nun?“, frage ich sie. Ich weiß es nicht!“, antwortet meine Mutter.
Ich will nicht, dass sie das sagt. Ich will, dass sie sagt, dass uns nichts geschehen wird. Ich will, dass ihre Worte mir Kraft und Sicherheit geben. Und so werde ich die Unruhe in mir nicht mehr los.
Es ist schon sehr spät nachts, und ich liege noch wach, obwohl ich unglaublich müde bin. Mich lässt die Angst nicht schlafen. Immer wieder wälze ich mich in meinem Bett umher. “Das ist doch lächerlich.“, sage ich mir.
Am nächsten Morgen wache ich wie erschlagen auf. Ich bin nicht nur hundemüde, sondern mir tut auch jeder einzelne Knochen weh. Ich fühle mich krank. Aber dennoch kämpfe ich mich aus dem Bett und die Treppe hinunter in das Esszimmer. Meine Mutter ist nicht da. Das wundert mich. Dass mein Vater nicht da ist, ist nicht ungewöhnlich. Aber wo ist meine Mutter? Ich gehe suchend durch unser Haus und rufe immer wieder: „Mutter, wo bist du?“, aber ich bekomme keine Antwort. Ich höre Proteste - Geräusche von draußen, die mir vorher noch nicht aufgefallen sind. Ich schleppe mich trotz meiner schmerzenden Glieder nach draußen vor die Tür, und dann sehe ich es: Alle Bewohner unseres Viertels stehen versammelt auf dem großen Platz. Sie rufen, schreien und werfen die Arme in die Luft. Sie scheinen mit etwas ganz und gar nicht zufrieden zu sein. Ich zwänge mich durch die Menschenmenge und versuche niemanden versehentlich zu schupsen oder jemandem im Weg zu stehen. Ich dränge mich weiter durch die Ansammlung wütender Menschen. Und da sehe ich sie: meine Mutter. Ich stürze sofort zu ihr.
´“Was ist hier los?“, frage ich sie und versuche den Lärm zu übertönen. Mit Tränen in den Augen dreht sich meine Mutter zu mir um, und mit gebrochener Stimme flüstert sie: „Die wollen uns aus unserer Stadt vertreiben. Sie wissen, dass sie das jetzt tun können, solange es keinen Nachfolger für den Kaiser gibt!“ Die letzten Worte hängen in der Luft. Ich verspüre einen Stich in der Brust.
„Und wo sollen wir dann hin?“, frage ich mit tränenerstickter Stimme. „Ich weiß es nicht, aber wir müssen von hier weg“, flüstert sie. “Sie geben uns einen Tag Zeit, um unsere Sachen zu packen und zu verschwinden. Wir müssen deinen Vater holen und dann so schnell, wie möglich weg von hier!“
Ich packe so schnell, wie möglich meine Sachen, aber wir werden trotzdem erst am nächsten Abend fertig. Meine Familie und ich kämpfen uns einen Weg durch die Menge der fliehenden Juden. Ich kann die Zahl der Leute, die mich in ihrer Panik schon getreten, geschubst und mir aus Versehen ein Bein gestellt haben nicht zählen. Ich falle hin, in meiner Kniescheibe knackt es und ein stechender Schmerz schießt durch mein ganzes Bein. Schmerzenstränen steigen mir in die Augen. Ich spüre wie mich zwei große Hände hochheben. Mein Vater hebt mich auf seine Schultern. Er scheint zu wissen, dass ich nicht mehr richtig gehen kann. Ich drehe mich ein letztes Mal um und da sehe ich, dass die Synagoge lichterloh brennt. Die Flammen zeichnen sich deutlich vom nächtlichen Himmel ab. Ein Schrei voller Entsetzen kommt aus meiner Kehle und zum ersten Mal seit dieser ganzen Sache fließen mir Tränen über die Wangen. Auch meine Eltern drehen sich nach meinem Aufschrei um. Meine Mutter bricht zusammen und bleibt eine Weile auf dem Boden ganz klein gekrümmt sitzen. Ein Akt der Verzweiflung. Meinem Vater laufen still Tränen über die Wangen. Und so trauern wir alle gemeinsam um unser zerstörtes Gotteshaus. Gerade will schon die Wut auf die Christen in mir anfangen zu brodeln, als ich angerempelt werde…
Wow, ich bin wieder zurück in der Gegenwart. Ich stehe auf dem Neupfarrplatz. Hier war damals der Marktplatz des jüdischen Viertels.
Bin ich vielleicht froh wieder in der realen Welt zu sein, auch wenn ich gerne gewusst hätte, wie es mit Narzissa weitergegangen ist.
Im Rahmen des Schreibwettbewerbs "L’Chaim: Schreib zum jüdischen Leben in Deutschland!" 2022
Es war kein schöner Tag. Meine Familie hatte mich dazu gezwungen, meinen Sonntagnachmittag damit zu verbringen mit ihnen Eisessen zu gehen und einen „schönen Stadtbummel“ zu machen. Und das bei 18°C und wolkenverhangenem Himmel. Nicht wirklich das Wetter, dass man Mitte Juni für einen Sparziergang erwarten würde. Es war sowieso zu kalt für Eis, fand ich. Man könnte also sagen: ich war nicht gerade bestens gelaunt. Vor Allem, da ich für die ach so wertvolle Familienzeit, eine Verabredung absagen musste.
Wir waren zu viert unterwegs: Mama, Papa, ich und mein kleiner Bruder Linus. Er war gerade Mal fünf Jahre alt. Ich hielt mich hinter dem Rest der Gruppe. Sie konnten ruhig wissen, dass ich keine Lust auf diese ganze Aktion hatte.
Eben jener Linus fing jetzt an zu schreien. Natürlich kamen ihm alle gleich hinterhergedackelt – so auch ich. Es sollte doch wenigstens einmal möglich sein, dass dieser Kleiner…
Linus: “Mamiiii! Guck mal, da ist Gold! Komm! Hier!“
Ihr müsst wissen: ich liebe meinen Bruder. Natürlich! Wie sollte man ihn auch nicht lieben? Ich wusste auch, worauf er gestoßen war. Und das war nicht ganz so liebenswert. Überhaupt nicht. Rein gar nicht. Linus hatte einen Stolperstein gefunden. Mehrere nebeneinander, um genau zu sein. Er war über sie gestolpert, wenn man das Wortspiel benutzen will. Ich kniete mich neben meinen Bruder, bedeutete ihm mit einem: „Warte kurz Linus, gleich!“, zu schweigen und las mir ihre Inschrift durch.
Ich weiß auch nicht genau, was mich dazu bewog. Normalerweise streifte ich diese Steine nur mit einem flüchtigen Blick oder bemerkte sie erst gar nicht. Bei einem Stein blieb mein Blick besonders hängen:
HIER WOHNTE
PAUL BRANDIS
JG. 1929
DEPORTIERT 1942
ERMORDET IN
SOBIBOR
Ich stockte. Dreizehn Jahre. Dreizehn. Nur. ICH war gerade dreizehn.
Mit dem Unterschied, dass mir mit hoher Wahrscheinlichkeit ein längeres Leben vergönnt ist. Es war schlimm.
Und wieso? Weil ich 70 Jahre später geboren und zufälligerweise mit einer christlichen Mutter aufgewachsen bin? Das war es? Es war so nah und wirkte trotzdem meilenweit entfernt. Was unterschied mich von Paul Brandis? Natürlich wusste ich, was mich von Paul Brandis unterschied, doch ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass es DAS war, was mich leben ließ und ihn nicht.
Er hatte drei Geschwister - Charlotte, Werner und Rodolf. Alle drei ebenfalls unter achtzehn und… gestorben – ermordet. Ich kann und will es mir nicht vorstellen. Nicht nur seine eigene Angst und Wut, sondern auch die Angst und Wut seine Geschwister leiden und sterben zu sehen.
Es gab auch noch jeweils einen Stolperstein für Pauls Mutter und seinen Vater. Und für drei Mitglieder der Familie Holzinger, bei denen ich mir die familiären Verhältnisse auf die Schnelle nicht erschließen konnte. Alle fünf ebenfalls ermordet. - Keine Überlebenden. Diese Familie wurde komplett ausgelöscht! Und dabei war sie nicht die einzige.
Je mehr ich darüber nachdachte desto schrecklicher wurde es.
Vielleicht hätte ich einfach über diesen Stein Hinwegschauen sollen, wie ich es sonst immer getan habe. Ich wäre vermutlich weniger traurig. Doch waren Stolpersteine dafür nicht sogar da. Uns alle ein bisschen aus den Wolken zu holen. Mit dieser Erinnerung an die alten Zeiten. An unsere eigene Vergangenheit und die unseres Landes. Vielleicht sollten wir sogar traurig sein. Das war doch der Sinn. Denn, was wäre erst, wenn wir es nicht wären? Die Welt wäre vermutlich noch um einiges schlimmer. Denn, wenn mir Paul Brandis egal wäre, während ich mir seine Todeszeit und Ort durchlese, wie viel besser wäre ich dann, als diejenigen, die ebenjenen Tod vor siebzig Jahren zugelassen haben?
Ich saß immer noch kniend vor den Stolpersteinen, als mich Linus aus meinen Gedanken zurückholte: „Was ist das Mara?“, das ist übrigens mein Name. „Ist das schlimm? Warum guckst du so komisch?“ Ich lächelte – oder versuchte es zumindest. Für meinen Bruder würde ich immer lächeln. Viellicht hatte das ja Pauls große Schwester auch für ihn getan. Wie konnte man das erklären? Kinderfreundlich? „Weißt du Linus, das hier…das hier…“ Hinter Linus Rücken sah mich Mama mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie dachte wohl auch schon an die Albträume, die er bekommen würde. Linus war viel zu jung für so viel Brutalität. „Das hier ist ein Denkmal, weil…“ Ich seufzte: „Jemand gestorben ist… vor langer Zeit“ Linus drehte seinen Kopf und schaute mich nochmal genauer an. Ich sah meine Spiegelung in seinen großen Augen. „Das ist traurig“, sagte er, und es klang, als würde er es auch so meinen. Ich war ein klein wenig stolz auf meinen kleinen Bruder.
Zwei Minuten später sah er eine Taube, der er hinterherjagen konnte und alles schien wieder vergessen zu sein. Das war das Schöne an kleinen Kindern. Sie konnten vergessen. Oder es sah zumindest so aus. Ich glaubte nicht, dass ich Paul Brandis und seine Familie so schnell vergessen würde. Und das war auch ok so.
In diesem Moment beschloss ich, mich doch noch zu meinen Eltern zu gehen und mit ihnen zu reden. Ich sollte den Tag genießen. Es gab wahrscheinlich doch schlimmeres, als seinen Sonntagnachmittag mit Eisessen mit der Familie zu verbringen.
Paul Brandis und seine Familie sind keine erfundenen Charaktere, sondern echte Personen, die vor circa 70 Jahren in meiner Heimatstadt Regensburg lebten. Ihre Stolpersteine befinden sich in der Maximilianstraße 16.
Ich hoffe ich konnte mit dieser Kurzgeschichte auf das Verborgene hinter diesen goldenen Steinen hinweisen und etwas darauf aufmerksam machen. - Josefa Reisinger
Es war einmal ein Affe, der ganz allein auf einem Bananenbaum wohnte, denn er liebte Bananen.
An einem Tag im Frühling kam ein Spatz zum Affen und zwitscherte: „Du solltest auf einen anderen Baum gehen, denn wenn es Sommer wird, erwacht der Bär aus dem Winterschlaf und geht genau zu diesem Baum, denn er liebt Bananen. Wenn du willst, können wir Freunde sein und du wohnst bei mir und meiner Familie.“ Doch der Affe war frech und schrie: „Ich brauche keine Hilfe und schon gar keine Freunde. Außerdem ist mein Baum perfekt und wenn der Bär ihn mir wegnehmen will, dann werde ich mich verteidigen!“
Als der Affe vom Baum hüpfte, um eine heruntergefallene Banane aufzuheben, landete er auf etwas Spitzem: „Aua!“ rief er empört und ergänzte: „Kannst du nicht aufpassen, wo du dich hinlegst?“ Auf dem Boden lag ein kleiner Igel und sagte: „Beruhig dich! Ich will dir doch nur helfen!“.
Der Affe war entsetzt! „Ich brauche keine Hilfe!“ Der Igel stotterte: „Aber, wenn der Bär aus dem Winterschlaf erwacht, dann wird er genau hierherkommen, denn er liebt Bananen. Aber wenn wir Freunde wären, könntest du bei mir und meiner Familie wohnen.“ Doch der Affe war immer noch frech und schrie: „Ich brauche keine Hilfe und schon gar keine Freunde! Außerdem ist mein Baum perfekt und wenn der Bär kommt, um ihn mir wegzunehmen, dann verteidige ich ihn eben!“
Als der Sommer anbrach erwachte der Bär, wie gewarnt, aus dem Winterschlaf und ging zum Bananenbaum. Der Affe wurde vom wilden Gerüttel wach und hatte tierische Angst. Vor dem Baum standen Spatz und Igel: „Wir dachten, du verteidigst dich!“. Der Affe schämte sich: „Vielleicht ist es doch nicht so schlecht Freunde zu haben. Ich würde gerne mit euch befreundet sein, aber bitte helft mir hier herunter!“
Als der Affe unten war, befreundete er sich mit dem Igel und dem Spatz. Dann lebten sie glücklich bis an ihr Ende!
Heute sollen wir als Hausaufgabe einen Aufsatz zum Thema „Freundschaft und Zusammenhalt“ schreiben. Was soll mir denn bitte dazu einfallen?? Das ist doch ein Thema, das sich nur langweilige deutsche Lehrer einfallen lassen. Wie sehr ich diese Erwartung, die dahintersteckt, hasse: Jeder normale Mensch hat Freunde. Du doch sicher auch! Schreib doch eine nette Geschichte über ein schönes Erlebnis, das ihr zusammen hattet, die damit endet, dass alle glücklich strahlend versprechen, immer beste Freunde zu bleiben! Wissen diese Menschen, wie die Realität aussieht? Oder sind das einfach Leute, die nur ihren Job tun, um endlich nach Hause gehen zu können?
Ich stöhne und stütze meinen Kopf in die Hände. Mein Blick fällt durch das schmutzige Fenster. Überall nur grau. Die Hochhäuser mit den tausend toten, blicklosen Augen, Fenster für die trostlosen Familien lassen ebenso wie der spätnachmittägliche Himmel, dessen kaltes Novemberlicht kaum durch die Wolken dringt, keinen Platz für Hoffnung und Freude. Die Bewohner dieser Betonklötze werden nie aufsteigen in der komplizierten sozialen Hierarchie.
Vielleicht sollte ich es einfach aufgeben, dem strengen Deutschlehrer morgen ein leeres Blatt aushändigen. Das wäre eine treffende Beschreibung dessen, was ich von diesem Thema halte. Aber ich weiß, das kann ich meinen Eltern nicht antun. Sie wollen einfach nur, dass meinen kleinen Geschwistern und mir ein besseres Leben bevorsteht als ihres gewesen ist, und ich muss den Jüngeren ein Vorbild sein, indem ich einen guten Schulabschluss erhalte.
Ein weiteres deprimiertes Seufzen. Unschwer zu erraten habe ich nie viele Freunde gehabt. Ich bin immer eine Neue gewesen, habe nie richtig dazugehört. Oder? Irgendetwas kitzelt am Rande meines Bewusstseins. Bilder und Gedanken, die ich mein ganzes Leben versucht habe zu vergessen, drängen sich wieder hoch, versuchen mit aller Macht meine Aufmerksamkeit zu erlangen. Nein! Ich will nicht, bin noch nicht bereit. Wenn ich älter bin, mehr Zeit und Nerven hatte, kann ich mich vielleicht damit auseinandersetzen. Aber jetzt bin ich doch noch nicht bereit!!
Zu spät. Mein Kopf füllt sich mit Erinnerungen, mit Lachen und Rufen, mit bunten Farben und dem unbändigen Gefühl des Glücks. Ich liege auf dem Boden, mein Mund zu einem stummen Schrei geöffnet, denn ich weiß, was daraufhin kommen wird. Der Kummer droht mich wieder zu überrollen, mich willenlos zu machen. Dann vernehme ich eine Stimme, kaum besser zu hören als ein Lufthauch: „Du hast genug gelitten, es ist Zeit zu handeln. Bitte, schreib. Bring unsere Geschichte an die Öffentlichkeit. Rette mich, nimm mir das Gefühl, nur Elend gebracht zu haben. Bitte, schreib…“
Verwundert öffne ich meine Augen. Der Schmerz ist verklungen. Ich habe das Gefühl, aus einem jahrelangen Schlaf erwacht zu sein. Natürlich ist die Trauer noch da, aber zum ersten Mal ist sie zu einem bewältigbaren Maß geschrumpft. Ich denke an Fahrradwettrennen, an das Gefühl des Windes im Gesicht, wenn man mit ausgebreiteten Armen rennt. Erinnere mich an das Gefühl der Neugier, Abenteuer- und Unternehmungslust. Wo war das geblieben? Hatte mein ganzes Leben einfach an jenem Tag geendet? Aber diese glückliche Zeit war doch nicht verschwendet, oder?
Ich atme tief durch, lasse mit meinem Atem alle unnötigen Ängste und Sorgen hinaus. Dann setze ich mich zurück an den Tisch, nehme den Stift in die Hand, bereit, meine Gefühle auf das Papier strömen zu lassen. Und ich beginne zu schreiben. Eine Geschichte zur Freundschaft.
Am achten Tag des siebenten Monats kitzelten die Sonnenstrahlen auf Averys Nase, doch sie konnte sich einfach nicht an diesem wunderbaren Gefühl beglücken. Sie seufzte einmal tief, in der Hoffnung, den Knoten in ihrem Bauch zu lösen. Vergeblich. Sie schlug ihre Beine über das Bett, sich wünschend, alles wäre nicht so schlimm, wie es war. Mit schweren Füßen tapste sie in die Küche, um etwas zu essen, doch dadurch wuchsen ihre Bauchschmerzen nur, als hätte sie sie gefüttert. Suchend blickte sich die Elfe nach ihrer Katze Salem um, doch sie war nirgends zu finden. Salem hätte sie vielleicht noch etwas aufheitern können, schließlich war die schwarze Katze ihr ständiger, treuer Begleiter. Der Gedanke, dass die Norwegische Waldkatze einen guten Grund hatte weg zu sein, stimmte sie etwas besser. Doch dies musste etwas sehr Wichtiges sein, weil das, was Avery gleich tat, bereits von unermesslicher Bedeutung war. Mit leicht zitternden Händen stellte Avery ihre Tasse Tee auf den Fenstersims. Nun war es Zeit zu gehen. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, griff nach ihrer Umhängetasche und ging los. Als sie von ihrem Haus in den Wald ging, überprüfte sie, ob sie auch alles Notwendige eingepackt hatte. Ihren Heiltrank und Unsichtbarkeitstrank, der aufgrund des seltenen Flussgrases nur eine sehr kurze Wirkungsdauer hatte, ihren Schutzzauber, der auf mehrere Gegenstände gelegt war, wie auf ihr Amulett oder einen extra für diesen Anlass ausgewählten Stein. Sie fand auch den Charme-Zauber der Gnome, der in einem kleinen Gefäß aus Glas saß. Sie atmete erleichtert auf, sie hatte nichts vergessen. Sie wurde noch etwas glücklicher, als sie in ihre Tasche griff und dort Salz spürte. Salem hatte in der Nacht wohl noch extra einen Schutzzauber gelegt, den sie glatt vergessen hatte, selbst auszuführen. So wuchs auch ihre Bestätigung, dass ihr schwarzer Freund gerade etwas von großer Bedeutung tat. In ihren Gedanken schickte sie einen Segen an die Götter und an Salem. Doch ihre Heiterkeit war nicht von langer Dauer. Ihre Gedanken fingen an zu wandern, genau wie sie es tat. Doch die kleinen Wesen ihn ihrem Kopf gingen einen anderen und zielstrebigeren Weg als sie. So fand sie sich schneller als sie gehofft hatte, bei dem eigentlichen Thema ihres Ausflugs. Der Drache Bryddris, der Zerstörer des Lebens. Bei jedem Gedanken an dieses Monstrum begann ihr Magen sich zu verknoten und ihr wurde schwindlig vor Angst. Um ihn rankten sich unfassbar viele Legenden und Mythen. Er soll über fünfzigtausend Jahre alt sein, was sogar für die Elfen eine Ewigkeit war. Doch die Legenden, die sich um diesen Drachen rankten, waren noch älter als er selbst. Weit vor seinem Erscheinen, prophezeite ein Orakel sein Kommen. Allein seine Geburt war ein Ereignis, das jahrtausendelang Zerstörung brachte.
Laut einer Priesterin, die bereits vor der Zeitrechnung existierte, würde ein gewaltiges Monstrum im Birmingmeus-Gebirge erwachen. Dort, wo es auferstehen würde, lag der gefährlichste und aktivste Vulkan auf dem ganzen Planeten. Dies war nicht das Schlimmste, denn Bryddris und dieser Vulkan waren verbunden. Jedes Mal, wenn der Drache vor Zorn raste, explodierte der Vulkan. Jetzt hieß das, dass das ganze Gelände um den Vulkan verbrannt, verascht und unbewohnbar war. Averys Herz wurde immer wieder bei diesem Gedanken schwer, da das Gelände um das Gebirge einst das fruchtbarste in diesem Land war. Die Millionen Wesen, die dort lebten, waren entweder gestorben oder mussten mit schweren Verletzungen Asyl im Nachbarland suchen. Die Wiesen hießen heute nur noch die brennenden Steppen. Avery schüttelte ihren Kopf, um ihre Gedanken wieder zu ordnen. Schweigend stapfte sie durch das Moos. Der ganze Wald wirkte angespannt und je näher sie der Höhle kam, die heute ihr Ziel war, desto leiser wurde es. Es gab kein Vogelgezwitscher mehr, kein Rascheln im Gebüsch und kein einziger Flügelschlag war zu hören. Hier hielt der ganze Wald seinen Atem an, aus Angst vor dem Drachen und was gleich geschehen würde. Bryddris Ankunft sprach sich schneller als ein Lauffeuer herum und nun war alles um ihn wie ausgestorben. Avery wurde mit jedem Schritt nervöser und jeder Atemzug wurde angespannter. Sie rieb ihre verschwitzten Hände an ihren Hosentaschen und atmete ein letztes Mal tief ein. Inzwischen stand sie vor der Höhle. Es roch übel, nach frischem Fleisch und verkohltem Stein. Avery schossen Tränen in die Augen. Sie konnte es noch nie verkraften, tote Tiere zu sehen, gar zu essen. Sie kannte jedes Tier und jede Pflanze. Für sie waren alle gleich. Doch ein Drache brauchte Fleisch, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie kramte kurz in ihrer Tasche, um den Charme-Zauber herauszuholen. „Ich brauche dich jetzt dringend“, flüsterte sie nervös. Avery drehte den Behälter dreimal in ihrer Hand, um die Magie freizusetzen. Dann trat sie in die Höhle ein.
Ihre Augen brauchten einige Zeit, um sich an das spärliche Licht zu gewöhnen. Zu Averys Glück schenkte ein kleines, fast erloschenes Feuer gerade genug Licht, um ausreichend zu sehen. Sie rieb sich ein paar Mal über die Augen und fasste ihren ganzen Mut zusammen: „Bryddris!“, rief sie. Avery zuckte zusammen, als ihre Stimme mehrmals an den Höhlenwänden entlang hallte. Ihre Stimme klang nervös ängstlich. Verschreckt schaute sie sich um. Niemand war zu und sehen. Vielleicht war Bryddris auf der Jagd? Ihr lief eine Gänsehaut über den Rücken. Vielleicht würde es reichen, wenn sie ihm eine Nachricht hinterlassen würde. Doch was sollte sie ihm sagen?
Avery schüttelte den Kopf und verwarf diesen unsinnigen Gedanken. Sie wollte eigentlich wieder gehen und war erleichtert, dem Drachen heute nicht entgegentreten zu müssen, als sie ein Aufblitzen im Hintergrund sah. Neugierig drehte sie sich um. Rückblickend konnte Avery es sich nicht erklären, warum sie nicht einfach hinausgegangen war. Schließlich war sie kein Lunaby, eine Art Vogel, der von allem Glänzenden angelockt wurde und es daraufhin stahl. Doch die Elfe zeigte ähnliche Reaktionen wie ein solches Tier. Sie blieb erstaunt stehen, sah sich verstohlen um und ging auf das Funkeln zu. Es war wohl Averys Unterbewusstsein, das sie dort hinzog, denn was dort lag, war erschreckend, doch sie war nicht überrascht, es in der Höhle des Drachens zu finden. Trotzdem war sie fassungslos, als sie die Rüstungen sah. Es war ein überdimensionaler Brust- und Schädelschutz für den Drachen und daneben lag eine Rüstung für einen Menschen. Avery war wie vom Donner gerührt. Wenn Bryddris in Begleitung eines Menschen war, war der Drache noch um einiges gefährlicher. Sie hatte zwar noch keinen Menschen getroffen, doch was man sich über sie erzählte, ließ sie wie Monster aussehen. Sie töteten Tiere, fällten Bäume, waren grausam und töteten auch untereinander. Ihre Anführer waren oftmals skrupellos und grausam und scheuten sich nicht einfach Kriege anzufangen. Sie musste hier raus. Avery hielt es nicht länger in der neuen Behausung des Drachen und seines Reiters aus. Zügig lief sie dem Ausgang zu, als sich ein Schatten über sie legte.
Sie erstarrte. Averys Herz pocht gegen ihre Rippen und ihr Blut rauschte in ihren Ohren. Bryddris und sein Mensch waren vor dem Eingang und direkt vor ihr gelandet. Der Drache war größer als sie es sich vorgestellt hatte. Große, wütende Augen saßen dicht im dornigen, harten Schädel der Kreatur, was ihm ein ziemlich bedrohliches Aussehen verlieh. Zwei enorme Kristallwucherungen saßen auf dem Kopf direkt über den dicken, spitzen Ohren. Eine Reihe kleiner, aber spitzer Hörner verlief an den Seiten jeder Kieferlinie entlang. Die Nase war breit und hatte zwei kleine, längliche Nasenlöcher. Am Kinn befanden sich kleine Hörner. Zwei riesige Zähne ragten aus der Seite seines Mundes heraus, während sich Reihen großer, spitzer Zähne dahinter auftürmten. Ein dicker und muskulöser Hals lief vom Kopf in einen langen, von Wunden und Alter geprägten Körper. Doch Bryddris war weder schwach, noch wurde er es. Der Drache würde noch Hunderte von Jahren durchleben müssen, bis das Alter ihn wirklich schwächen würde. Seine Oberseite war mit dicker Haut bedeckt und ein gepanzerter Kamm lief über den Rücken. Sein Bauch war mit steinartigen, dicken Schuppen bedeckt und etwas dunkler gefärbt als der Rest seines Körpers. Vier sperrige und kräftige Beine trugen seinen Körper und ließen ihn robust und erhaben wirken. Jedes Bein hatte sechs Zehen, von denen jede in einer riesigen, scharfen und dicken Kralle endete, die scheinbar aus Knochen bestand. Seine robusten Flügel waren fast doppelt so groß wie er und nahmen beinahe die ganze Lichtung vor der Höhle ein. Sein Flügelansatz ging jedoch nur von den Schultern bis ans Ende der Schulterblätter. Die Flügel waren fast dämonisch, ihre Haut schien zu glühen, als ob sie aus Feuer selbst bestünden. Man sah, zwar nur leicht angedeutet, die unheimliche Knochenstruktur, die einen großen Teil der Flügel ausmachte, und die vielen Stellen an der Unterseite, an denen lange, rankenartige Wucherungen wuchsen. Scharfe, stachelige Schuppen bedeckten die Oberseite der sichtbaren Knochen. Sein breiter, mit Widerhaken versehener Schwanz endete in einer sensenähnlichen Klinge, die mit der gleichen schuppenartigen Haut wie sein Körper bedeckt war.
Er machte einen Flügelschlag und schon setzte er seine schweren Pranken auf dem Boden ab. Seine schwarzen Schuppen glänzten im Licht der Abendsonne und Avery musste mehrmals blinzeln, da die Sonnenstrahlen ihre Augen trafen. Noch während sie blinzelte, hob der Drache seinen Kopf in ihre Richtung, anscheinend hatte er ihre Fährte bereits aufgenommen. Er starrte sie nur ausdrucklos an, doch seine blutroten Augen waren bereits Grund genug, einen Schritt nach hinten zu gehen. Avery griff aus Reflex an den Griff ihres Dolches, doch zog sie ihn nicht hervor, um den Drachen mitsamt Reiter nicht zu provozieren. Sie zuckte zusammen, als der Mann von Bryddris Hals hinuntersprang. Er sah so aus, wie man es sich erzählte: Menschen waren schlank, hochgewachsen (nicht aber größer als Elfen), und muskulös. Oftmals trugen sie viele verschiedene Waffen an sich und fast immer hatten sie einen misstrauischen, hasserfüllten Blick. Auf den Mann, der vor ihr stand, traf alles zu. Avery spürte sofort die negative Aura, die beide umgab. Der junge Mann hatte erdbraune Haare und erstaunlich grüne Augen. Sein Teint war etwas zu hell für diese Gegend. Wahrscheinlich war er auch anfälliger für Sonnenbrand, wenn er mit dem Drachen flog. Er zog sein Schwert und ehe sich die Elfe versah, hielt er es an ihren Hals. „Was willst du hier?“, zischte er mit gepressten Kiefern hervor. Averys Herz pochte bis zu ihrem Hals, während sie sich ihre Worte zurechtlegte. „Ich bin Avery, magische Beraterin der Königin und Schützerin des Waldes. Ihr seid in eine Höhle auf dem Territorium der Königin gezogen, deshalb wollte ich euch begrüßen.“ Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie den Drachenreiter an, der sich etwas entspannte. Dennoch starrte er sie misstrauisch an. Ein Blick zu Bryddris und er steckte sein Schwert wieder in die reich verzierte Schwertscheide. „Ich möchte meine überhastige Reaktion entschuldigen“, fing der Mensch an. „Ich bin Arnorr Waadaf, der erste menschliche Drachenreiter seit zweihundertfünfzig Jahren. Mein Volk und ich lebten seit Beginn der Menschheit friedlich auf der Insel Ellingnia. Dort habe ich die ersten eineinhalb Jahrzehnte meines Lebens mit Training für Drachenreiter verbracht. Vor fünf Jahren wurde mein Volk von Fletboons angegriffen, die die Insel eingenommen und für Menschen unbewohnbar gemacht haben. Wir sind seit mehreren Jahren auf der Flucht und suchen Asyl, doch bis jetzt haben uns keine Stadt und kein Herrscher eine Erlaubnis gegeben, eine neue Siedlung zu gründen. Alle hatten Angst vor Bryddris, was wohl auch verständlich ist. Als wir jedoch von eurer Königin und ihrer Herzensgüte hörten, war für uns alle klar, dass ihr unsere letzte Hoffnung seid. Mein Drache und ich haben uns entschlossen, zuerst in den Wald zu fliegen, mit der Hoffnung eure Aufmerksamkeit zu erregen und um Asyl zu bitten. Wenn ich darüber nachdenke, hätte ich wahrscheinlich nicht mit Bryddris kommen sollen, da wir euch vermutlich ziemlich erschreckt haben.“ Er grinste Avery hochnäsig an. Die Elfe war nicht überrascht von seiner Überheblichkeit, doch trotzdem hatten seine Worte die Wirkung, die sich Arnorr erwünscht hatte: Avery war gereizt. Sie fasste sich an die Schläfen. „Also wollt ihr mit eurem Volk in diesem Wald leben?“ Sie war eindeutig gegen diesen Vorschlag, da sie wusste, dass Menschen ihre Häuser aus Bäumen bauten, nicht in Bäumen. Sie könnte so einen Massenmord weder ertragen, noch dulden. Langsam schüttelte sie ihren Kopf und so verhärtete sich die Miene des Menschen wieder. „Wenn ich eure Geste richtig verstehe, Avery, nickte zustimmend und schüttelte seine Hand. Sie hasste Menschen. Sie wollte gehen, doch der Drache versperrte den ganzen Eingang, also schob sie sich vorsichtig an Bryddris vorbei. Aus ihren Augenwinkeln sah sie eine Wunde an seinem Bauch. Sie dachte sich nichts dabei, wahrscheinlich war es eine Jagdverletzung. Als sie aus der Höhle trat, war sie unglaublich erleichtert. Sie atmete tief aus und ging entschlossen los. magische Beraterin der Königin und Schützerin des Mikha-Waldes, wollt ihr uns nicht aufnehmen?“ Arnorrs Hand wanderte zum Griff seines Schwertes. Er holt einmal tief Luft, und erklärte, so wie einem Kleinkind: „Mein Klan Runningford sucht seit Ewigkeiten eine gütige Person, die uns ein Stück Land für unsere Siedlung gibt. Wir haben den gefährlichsten Drachen der Welt, wenn nicht das gefährlichste Lebewesen der Welt. Wir sind müde nach diesem jahrelangen Umherwandern. Ich war großherzig und habe immer nur um Hilfe gebeten. Ich hätte Bryddris schon lange befehlen können, eine Stadt zu erobern. Doch ich tat es nicht. Deshalb kann ich leider nicht nachvollziehen, warum ihr mir kein Land geben wollt. Ein Wort und euer gesamter Wald steht in Flammen. Ich frage ein letztes Mal: Gebt ihr meinem Volk Asyl, Avery?“
Avery stand wie vom Donner gerührt da. Ihre Gedanken rasten, doch sie konnte keinen einzigen fassen. Sie starrte diesen Menschen an, der sich für mächtiger hielt, als er war. Sie riss sich zusammen und formte einen groben Plan in ihrem Kopf. „Ich kann euch und eurem Volk Asyl geben, doch ich bitte euch, mir zwei Tage und zwei Nächte Zeit zu lassen, um ein geeignetes Stück Land für euch zu finden und alles Notwendige mit der Königin zu besprechen. Ich würde sagen, wir treffen uns dann wieder hier.“ Arnorr nickte zustimmend und reichte Avery die Hand. „Es freut mich, dass wir uns einigen konnten. Ich hoffe, Ihr findet ein gutes Stück Land für uns.“ Avery nickte zustimmend und schüttelte seine Hand. Sie hasste Menschen. Sie wollte gehen, doch der Drache versperrte den ganzen Eingang, also schob sie sich vorsichtig an Bryddris vorbei. Aus ihren Augenwinkeln sah sie eine Wunde an seinem Bauch. Sie dachte sich nichts dabei, wahrscheinlich war es eine Jagdverletzung. Als sie aus der Höhle trat, war sie unglaublich erleichtert. Sie atmete tief aus und ging entschlossen los.
Ich fuhr gerade mit dem Bus in die Innenstadt von Berlin, um mich mit meinen drei besten Freundinnen zu treffen. Doch dafür musste ich meine jüngeren Geschwister allein lassen, was in unserer Wohngegend jedoch sehr gefährlich war, da es oft zu Überfällen und Gewalt kam. Unser Vater musste in schlimmen Zuständen arbeiten, um unser Haus und Essen zu bezahlen. Meine Mutter lebte schon lange nicht mehr. Manche meiner Geschwister waren von einer neuen Frau meines Vaters, die ihn vor zwei Monaten mit acht Kindern zurückgelassen hatte. Meine Freundinnen wissen nichts von meinem Leben. Ich musste ihnen, nämlich Maike, Romy und Kaya, jedoch manchmal zeigen, dass ich auch Zeit für sie hatte, damit sie keinen Verdacht schöpften, dass ich nicht wie sie lebte. Alle drei waren Einzelkinder, wohnten in einer riesigen Villa und gingen zwei Mal wöchentlich shoppen. Ich hingegen hatte sieben Geschwister, bewohnte ein kleines Haus, in dem ich mir ein Zimmer mit meinen drei Schwestern, die neun, fünf und drei Jahre alt waren, teilen musste. Um mit meinen Freundinnen überhaupt befreundet sein zu können, musste ich ihnen so etwas vormachen.
Ich hatte drei verschiedene Jobs, um mir die edlen Klamotten, die Meike, Romy und Kaya besaßen, auch kaufen zu können. Heute trug ich eine glitzernde Handtasche, zu einer schwarzen Hose und einem rosa Shirt und hatte gerade so noch den Bus bekommen. Plötzlich wackelte dieser so heftig, dass meine Tasche vom Sitz flog. Als ich mich nach ihr bückte, sah ich einen großen Mann mit einem starken Oberkörper und einem Tattoo auf dem rechten Arm, der mir bekannt vorkam. Er schien mich fest im Blick zu haben und ich merkte sofort, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Ich ließ mich langsam wieder auf den Sitz sinken, doch sein Blick brannte in meinem Nacken. Meine Hände fingen an zu schwitzen, denn in der Spiegelung der Scheibe erkannte ich plötzlich, wer er war: Sein Blick war so finster und hinterhältig, dass ich nicht wusste, ob ich schreien oder weinen sollte. Ich hatte Angst und zugleich brodelte Wut in mir, riesige Wut.
Es war schon acht Jahre her, aber das Gesicht hatte mich immer in meinen Träumen verfolgt. Der Mann, der zwei Reihen hinter mir saß, war zweifellos der Mörder meiner Mutter.
Außer ihm war ich die einzige, die wusste, dass meine Mutter sich nicht selbst das Leben genommen hatte. Ich hatte gesehen, wie der Mann, der jetzt hinter mir saß, mit einer Pistole auf meine Mutter geschossen hatte. Er hatte gelacht, als ich weinend zu ihr gelaufen war. Es passierte in einer einsamen Nacht, in der kein Mensch auf der Straße war. Er hatte mir noch „Black Panther“ ins Ohr geflüstert, was wahrscheinlich sein Deckname war. Erst am nächsten Morgen waren Kranken- und Polizeiwagen gekommen. Ich hatte ihnen den genauen Ablauf geschildert, doch niemand hatte mir geglaubt. Denn, wer glaubt schon einem sechsjährigen Kind? Aber ich hatte mir geschworen, irgendwann die Wahrheit ans Licht zu bringen und jetzt könnte es endlich so weit sein. Doch es war fast unmöglich ihn auffliegen zu lassen, erst recht konnte ich es nicht alleine schaffen. Ich brauchte Hilfe von jemandem, dem ich blind vertrauen konnte. Zuerst musste ich jedoch lebend aus diesem Bus kommen. Unbemerkt drückte ich die Notbremse, die gleich neben meinem Sitz an der Wand befestigt war. Ich hatte Glück: Nachdem der Bus vollständig zum Stehen gekommen war, stürmten alle Fahrgäste verängstigt aus dem Bus. Ich konnte mich, also, unbemerkt wegschleichen – glaubte ich zumindest.
Als ich durch einige Gassen gelaufen war, duckte ich mich hinter eine Mülltonne, denn ich wusste, dass „Black Panther“ mich nicht so einfach entkommen lassen würde. Als ich vorsichtig hinter der Mülltonne hervorspähte, stand zu meiner Überraschung am anderen Ende der Straße nicht er, sondern ein Junge, der ungefähr zwei Jahre älter als ich zu sein schien. Ich hatte ihn vorhin im Bus gesehen, doch er war mir nicht besonders aufgefallen. Er schaute in meine Richtung. In seinen strahlend blauen Augen erkannte ich Sorge. Vorsichtig kam er zu mir. Ich spürte zwar, dass er mir nichts tun würde, aber ich war zu schüchtern, um einfach aus meinem Versteck hervorzukommen. Doch plötzlich gab mein Handy laute Töne von sich. Ich holte es schnell aus meiner Jackentasche und drückte den Anruf von Kaya weg. Der unbekannte Junge kam blitzschnell zu mir und half mir hoch. Ich spürte, dass meine Wangen warm wurden, da es mir sehr peinlich war, dass ich mich versteckt hatte. Jedoch achtete er nicht darauf. Stattdessen nahm er meine Hand und zog mich durch viele Straßen zum Stadtrand.
Am Anfang wehrte ich mich, doch schon nach der ersten Kreuzung lief ich fast freiwillig hinter ihm her. Nach zwanzig Minuten schnellem Marsch und ohne ein Wort gewechselt zu haben, kamen wir zu einem großen Haus, mit riesigem Garten und einem langen Pool. Er wollte mich weiter in Richtung des Hauses ziehen, doch ich war ihm schon viel zu weit gefolgt. Mit einer geschickten Drehung konnte ich mich aus seinem festen Griff lösen. Ich spürte erst jetzt, dass mir eiskalt war und ich meine Jacke im Bus vergessen hatte. Der Unbekannte sah mich jetzt etwas hilflos, aber trotzdem mit einem bittenden Blick an. Ich musste ihn offensichtlich ähnlich angesehen haben, denn er nahm mich jetzt sanfter an die Hand und zog mich weiter. Dieses Mal war meine Angst wie weggeblasen. Vor der Tür nahm er einen silbernen Schlüssel aus seiner Hosentasche. Als wir eintraten, überkam mich ein wohliges Gefühl, obwohl das Haus riesig war. Alles war gemütlich eingerichtet und ein angenehmer Schokokeksduft lag in der Luft. Als ich mich erstaunt umsah, erkannte ich auf einem Bild den unbekannten Jungen, der jetzt hinter mir war. Darunter stand in einer schnörkeligen Schrift „Noah“. Er war mir mit seinem Blick gefolgt und sagte mit einem leicht amerikanischen Akzent: „Ja, ich bin Noah.“ Ich wusste, dass ich mich jetzt auch vorstellen musste. Nach kurzer Überlegung fragte ich nach dem Grund, warum er mir gefolgt war und mich mitgezogen hatte. Meinen Namen erwähnte ich nur am Rande. Noah erklärte mir, dass seine Mutter seit fast zwei Monaten verschwunden war. Obwohl sein Vater einer der höchsten Kommissare in der Stadt war, gab es noch kein Lebenszeichen von seiner Mutter Elisabeth. Sein Vater und dessen Kollegen verdächtigten die Mafia, zu der wahrscheinlich auch „Black Panther“ gehörte. Allerdings hatte die Polizei noch keine überzeugenden Beweise gegen die gefährliche Gruppe. Ich zitterte, während er mir die ganze Geschichte erzählte. Und irgendwie erinnerte mich das alles an die Situation meiner Mutter. Uns wurde klar, dass das alles zusammenhing. Und wir wussten auch beide, dass den Entführern und Mördern das Handwerk gelegt werden musste.
Zuerst rief ich meinen Vater an, um ihm mitzuteilen, dass ich bei einem Freund übernachten würde.
Dann gingen wir in die Küche, wo Noah uns einen heißen Kakao zubereitete. Danach setzten wir uns mit dem Getränk gemütlich auf die Couch. Nach fast drei Stunden hatten wir so viel geredet, dass ich dachte, ich würde Noah schon mein ganzes Leben lang kennen. Wir hatten fast die gleichen Interessen, wie Sport, Musik und Bücher. Doch unsere größte Gemeinsamkeit, war der Hass auf „Black Panther“ und seine Gangster-Freunde.
Gegen Mitternacht kam Noahs Vater William nach Hause. Ich versteckte mich im Keller, da wir keine Erklärungen abgeben wollten. William ging zügig ins Bett und war nach kurzer Zeit eingeschlafen. Noah und ich hingegen packten unsere Rucksäcke mit warmer Kleidung, Taschenlampen, Essen und weiteren brauchbaren Dingen für unsere Mission. Jedem, dem wir unseren Plan anvertraut hätten, wäre ein Schmunzeln übers Gesicht gehuscht. Aber wir waren fest davon überzeugt, dass unser Vorhaben funktionieren würde.
Um zwei Uhr schlichen wir mucksmäuschenstill aus dem Haus und machten uns auf den Weg zu einem kleinen Bungalow, der versteckt im naheliegenden Wald stand. Noah erklärte, dass hier der Lieblingsplatz seiner Mutter war. Als wir das schon etwas heruntergekommene, aber trotzdem wunderschöne Bauwerk erreichten, leuchtete der Mond sehr hell. Hier wollten wir mit unserer Suche starten und waren uns sicher, einen Hinweis zu finden. Im Umkreis von zehn Metern gab es unzählige Büsche und Baumhöhlen. Mit unseren Taschenlampen suchten wir die ganze Umgebung ab. Als ich in ein kleines Loch einer riesigen Eiche hineinleuchtete, blitzte etwas Goldenes auf. Ein Ring mit einem wunderschönen bläulichen Diamanten. Auf der Innenseite des Rings war der Name „Elisabeth“ eingraviert. Als ich das Schmuckstück vorsichtig herauszog, bemerkte ich, dass ein kleiner Zettel mit einer Schnur an dem Diamanten festgebunden war. Darauf stand in schnörkeliger Schrift: „Ich wusste, dass sie mich irgendwann wiederfinden werden. Als sie mich das erste Mal entführten, haben sie sich in Umhänge gehüllt und Masken aufgesetzt, aber ich habe einen von ihnen erkannt. Ich hatte deinem Vater damals nichts davon erzählt, da es ihn sicher sehr getroffen hätte. Aber diesmal bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Einer von meinen Entführern ist Papas Bruder, dein Onkel Mark.“ Erst jetzt kam bei Noah die Erinnerung zurück: Elisabeth hatte nach ihrer ersten Entführung etwas von einem versteckten Hinweis an ihrem Lieblingsort gesagt, wovon sein Vater nichts wusste.
Noah wurde kreidebleich. Ich erkannte, dass er sehr enttäuscht war. Sein Onkel sollte der Entführer sein? Ich wollte ihm Mut machen: „Vielleicht hat sich deine Mutter ja geirrt? Aber wir müssen wohl oder übel an unserem einzigen Anhaltspunkt festhalten.“ So bestürzt Noah auch war, wir mussten weiter. Kurze Zeit später machten wir uns mit dem Zug auf den Weg nach Rostock, in Marks Heimatstadt.
Er wohnte in einem kleinen Haus, in einer Siedlung mit ungefähr dreißig Häusern. Wir schlugen uns in der Nähe in die Büsche. Als die Sonne langsam aufging und wir schon eine Ewigkeit gewartet hatten, kam ein schwarzer Porsche mit verdunkelten Scheiben vor der Garage des Nebenhauses zum Stehen. Zu unserer Überraschung stieg nicht „Black Panther“ oder ein anderer Gangster aus, sondern William. Er ging langsam in seiner Polizeiuniform und seiner Kollegin im Schlepptau auf Marks Haustür zu. Bevor sie an der Tür klingelten, schaute William sehr angestrengt in unsere Richtung. Seine Mimik veränderte sich nicht. Anschließend wandte er sich wieder der Tür zu und ein lautes „Ding Dong“ ertönte. Nach zehn Sekunden kam Mark an die Tür. Als er die beiden Polizisten erkannte, schubste er diese zur Seite und rannte blitzschnell auf uns zu. Noah und ich zögerten keine Sekunde. Gemeinsam stürzten wir uns auf seinen Onkel und er hörte auf, sich zu wehren, weil er wusste, dass er verloren hatte. Nachdem ihm Handschellen angelegt wurden, warteten wir allein mit ihm draußen, während Noahs Vater und seine Kollegin mit der geladenen Waffe in das Haus hineingingen. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen sie mit „Black Panther“, dessen Hände ebenfalls in Handschellen steckten, und Elisabeth aus dem Haus.
Fiona schaute sich um. Schaute, was sie geschaffen hatte. Noch wusste sie es nicht. Doch sie war schlau genug. Schlau genug, um zu bemerken, dass sie einen riesigen Fehler begangen hatte. Niemand hatte ihr geglaubt, dass es klappen würde. Jetzt hatte es geklappt. Und sie hatte es berichtet. Live. Die ganze Welt würde es binnen Sekunden erfahren. Wie Aasfresser würden sie sich auf sie stürzen. Alles würden sie ihr bieten. Sie würde auf Eliteinternate gehen dürfen, Preise bekommen, alles. Sie würden ihr helfen, sie lehren, doch alles nur mit einem Ziel: hinter ihr Geheimnis zu kommen. Denn nun war sie in der Welt der Magier angekommen. Und das war keine nette Welt. Fast alle strebten nur nach Macht. Es wurde gelogen und betrogen. Fiona würde es am eigenen Leib erfahren. Oh, sie ahnte es bereits, auch wenn sie die richtige Magierwelt nur aus den Schlagzeilen der Klatschzeitungen kannte. Alle paar Wochen wechselten die Führenden. Meistens durch geheimnisvolles Verschwinden oder anderes, merkwürdiges Abtreten der Vorgänger. Es wurde immer als harmlos abgetan, doch Fiona war sich bewusst, dass dies bestimmt nicht so ablief, wie es angegeben wurde. Und ihr war auch bewusst, dass die Offiziellen, wie sie genannt wurden, krankhaft nach neuen Möglichkeiten strebten. Denn mehr Möglichkeiten bedeuteten mehr Magie, und mehr Magie bedeutete mehr Macht. Und sie hatte eine neue Möglichkeit erfunden. Sie hatte etwas Einmaliges geschafft. Etwas, was nie zuvor jemandem Bekannten gelungen war. Sie hatte einen Golem erschaffen.
Fiona murmelte vor sich hin und konnte es selbst nicht fassen. Verblüfft starrte sie auf den Klumpen Lehm – den sie zum Leben erweckt hatte und der nun bereit war, ihre Befehle auszuführen – und auf den Bildschirm ihres Computers, der immer noch alles übertrug. Schnell schaltete sie den Livestream aus. Was war sie nur für eine Idiotin? Das war wohl das Dümmste, was sie jemals getan hatte. Und dann, bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, was sie nun tun sollte, war wie aus dem Nichts neben ihr ein Mann erschienen: komplett in schwarz gekleidet. Das konnte doch nicht wahr sein?! Fiona erkannte sofort, wer vor ihr stand. Sie hatte Mythen gehört, doch sie hatte sie als Legenden abgetan. Irgendwelche Hirngespinste von Verrückten. Es konnte einfach nicht stimmen. Wenn sie Recht hatte, stand vor ihr der Schulleiter von Myrasell. In den Geschichten wurde er immer nur als schwarzer Mann bezeichnet. Einen anderen Namen hatte er nicht. Er schien schnell zur Sache kommen zu wollen: „Du weißt, wer ich bin! Was hast du nur getan, Kind? Jetzt bleibt dir nur noch eins: die Wahl. Entweder du kommst sofort mit mir mit oder du wirst dich selber ins Verderben stürzen. Nur noch ich kann dir helfen. Es ist zu spät, etwas anderes zu tun!“
Ja, er war wirklich der Einzige, der ihr helfen konnte. Doch wusste sie das? Und wie sie es wusste! Sie hatte von Myrasell gehört. Myrasell, die Magierschule im Untergrund. Ein Erstklässler von dort soll mächtiger sein als ein ganzer Trupp von Offiziellen. Dort soll die wahre Magie unterrichtet werden: was auch immer das war. Sie würde es herausfinden. In diesem Moment war nicht sicher, was sie lockte: die Neugier oder die Angst, als sie „Okay“ antwortete. Vielleicht war Fiona es sich noch nicht bewusst, aber jetzt stand ihr Leben vor der endgültigen Wende.
„Das Mädchen ist schlau“, dachte der schwarze Mann, „doch das, was es getan hat … Nein, das war das genaue Gegenteil.“ Innerlich schüttelte er den Kopf. In was für eine Gefahr sie sich gebracht hatte! Und in was für eine Gefahr ER die Schule brachte, indem er sie aufnahm! Aber wiederum: Ein Golem … Normalerweise wurde das erst in der zweiten Jahrgangsstufe gelehrt! Und das Kind hatte es sich selbst beigebracht! Talent war da, so viel konnte man stehen lassen. Und trotzdem … Wieso? WIESO? Wieso live? Wie kam man auf so etwas … Er konnte eigentlich nicht. Nein, er MUSSTE sie mitnehmen. Was wäre sie für eine Waffe in den Händen von Geranitschev und seinen Kumpanen. Nein, er musste sie beschützen. Dafür war Myrasell da.
Er hatte zwar eine Gefahr mit in die Schule genommen, aber dafür hatte er eine andere aufgehalten: die Gefahr, was passieren würde, wenn die manipulierte Fiona … Er wollte es sich gar nicht vorstellen. Jetzt war es sowieso zu spät. Fiona war da. Er hatte ihr ein Zimmer zugewiesen. Gleich würde sie wiederkommen. Sie musste alles erfahren. Alles über Myrasell … und alles über den Unterricht … und alles über die Gefahren, die draußen lauerten.
Fiona saß hier. In ihrem Zimmer. In Myrasell. Einer Magierschule! Ja, sie saß hier noch unwissend, was sie erwarten würde. Doch sehr wohl wissend, dass es etwas Großes war. Fiona musste an die Größenordnung denken. Sie hatte bereits etwas Unmögliches getan, indem sie einen Golem geschaffen hatte. Er hatte sie und sich teleportiert. TELEPORTIERT! Das musste man erst mal setzen lassen. Fiona stand auf und ging ans Fenster. Was würde jetzt kommen? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Auch wenn sie es versuchte. Sie konnte sich so gar nicht vorstellen, was passieren würde.
Fiona war ein Mensch, der nicht gut darin war, sich Dinge vorzustellen. Nicht ohne Anhaltspunkte. Also dachte sie lieber darüber nach, was schon geschehen war. Denn dort gab es genügend von ihnen. Was war passiert? Was war passiert, als der schwarze Mann, der Schulleiter, gekommen war? Sie erinnerte sich dunkel, wie er ihr gesagt hatte, dass sie schnell alles Unverzichtbare in eine Tasche packen und mitnehmen solle. Er ließ ihr Zeit. Die nötige Zeit. Aber auch nicht mehr. Sie packte schnell ein paar Fotos, ihre Lieblings-CD, ihr Lieblingsbuch, Notizen, die sie sich gemacht hatte und noch ein paar weitere Gegenstände, die ihr wichtig waren, ein. Als sie dies getan hatte, hatte sie sich noch keine Gedanken um ihre Freunde und Familie gemacht. Die Überwältigung hatte ihr Tun regiert. Erst jetzt dachte sie auch über die schlechten Seiten nach und stellte sich all die Fragen. All die Fragen, auf die sie keine Antwort hatte. Und jede einzelne traf sie wie ein harter Schlag in den Magen. Seit sie hier alleine in diesem Zimmer saß, hatte sie es hinausgezögert, aber es war ihr immer klar gewesen, dass sie sich ihnen stellen musste. Sie musste sie zulassen. Sie musste sich damit beschäftigen. Und Fiona ließ es zu. Es war, als wäre ein riesiger, mit Fragen gefüllter Luftballon in ihrem Kopf geplatzt und der ganze Inhalt prasselte auf einmal auf sie herunter. Würde sie ihre Eltern, ihre Freunde wiedersehen? Wann? Was würden sie denken, jetzt, wo sie auf einmal verschwunden war? Würden sie ihr glauben? Durfte sie ihnen überhaupt etwas erzählen? Larry hatte nicht geglaubt, dass ihre Vorhaben klappen konnten, Esther hatte es schon für möglich gehalten. Mum und Dad hatte sie nicht mal von ihren Versuchen erzählt. Was würden sie jetzt denken? Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinunter. „Nein!“, flüsterte sie verzweifelt. Das würde sie gleich mit dem Schulleiter klären. Alles würde gut werden. Punkt!
Sie wusste, was sie jetzt brauchte. Welchen Gegenstand. Sie nahm ihren CD-Player aus der Tasche und schaltete ihn an. Sie merkte, wie die Musik sie ergriff. Dann begann sie zu tanzen. Zu tanzen auf den zwei Quadratmetern freiem Boden, die sie in diesem kleinen Zimmer zur Verfügung hatte. Für diesen Moment konnte sie alle Sorgen und Probleme vergessen. Für diesen Moment musste sie sich nicht übermotiviert um Magie kümmern. Diesen Moment nutzte sie, um frei zu sein.
Nach einer Viertelstunde sah sie auf die Uhr, die in ihrem Zimmer hing. Sie musste los. Los, zum schwarzen Mann. Dort konnte sie ihre Fragen stellen. Und sie würde gute und schlechte Antworten bekommen.
Fiona tigerte im Kreis herum. Sie stand vor dem Büro des Direktors. Energisch fuhr sie sich mit der Hand durch die glatten Haare. Sie hasste es zu warten. Zu warten auf … Ja, auf was? Was würde sie gleich erfahren? Bereits vor einer Minute hatte sie an die Tür des schwarzen Manns geklopft. Bereits vor einer Minute hätte dieser schon da sein sollen. Doch sie hatte keine Antwort bekommen. Sie beruhigte sich. Gedankenverloren machte sie ein paar rhythmische Schritte 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 1, 2, 3 …
Schon rauschte der schwarze Mann herbei. „Oh, hallo Fiona. Du bist ja schon da! Komm doch in mein Büro“, sagte er. Er machte eine einladende Geste. Unbeholfen nickte Fiona. Etwas anderes fiel ihr nicht ein. Sie folgte dem Schulleiter.
„Okay, Fiona … Als erstes werde ich dir ein paar grundlegende Dinge über den Ablauf hier erklären. Du hast fünf Tage die Woche Unterricht. Montag bis Donnerstag hast du dreimal zwei Stunden Unterricht. Eine Einheit von acht bis zehn, die zweite von halb elf bis halb eins …“ Fiona hörte aufmerksam zu, während er ihr die grundlegenden Regeln erklärte. „Zudem hast du die Pflicht mindestens einen der hier angebotenen Extra-Kurse auszuwählen. Das sind Diskussionsrunden, in denen ihr über die angegebenen Themen redet, Sachen ausprobiert und Lösungen findet. ‚Wie wichtig ist die Theorie?‘, ‚Was können wir besser machen als die Offiziellen?‘, ‚Wozu sollte man die Magie verwenden?‘, ‚Wieso zerstört die Magie so viele?‘, ‚Ämter auf Myrasell oder nicht?‘. Ich lasse dir kurz Zeit. Du darfst dir ein bis drei der Themen aussuchen. Dann trage ich sie dir in den Stundenplan ein.“
„Ich nehme ‚Wieso zerstört die Magie so viele?‘“
„Das ging schnell. Es freut mich, dass deine Wahl auf dieses Fach gefallen ist. Das wäre Donnerstag fünf bis sechs. Warum hast du dir denn dieses Thema ausgesucht? Das würde mich interessieren!“
Ein Knistern lag in der Luft. Beide wussten, wieso die Wahl auf diesen Kurs gefallen war. Doch Fiona spürte, dass der Schulleiter es aus ihrem Mund hören wollte.
„Die Magie ist so etwas Wundervolles und doch passiert so viel Grausames wegen ihr.“ Fiona hatte leise gesprochen. Und der schwarze Mann nickte nur. Diese Geste reichte aus, um zu zeigen, dass er es auch nicht verstehen konnte. Die Spannung löste sich langsam und der Schulleiter wurde wieder formal. Auch wenn der Nachhall von Fionas Worten immer noch im Raum zu stehen schien.
„Okay, also hier ist dein Stundenplan. Auch wenn wir eine Magierschule sind, wirst du weiterhin normale Fächer haben. Deutsch, Mathe, Geschichte der Menschheit, Gesetze der Natur, Kunst und Sport sind Fächer, die auch schon in deiner bisherigen Schule gelehrt wurden. Auch wenn wir beispielsweise in Geschichte der Menschheit im Abschnitt Entwicklung der Magie andere, richtigere Informationen hervorheben, bleiben diese Fächer weitgehend gleich. Du wirst jetzt aber auch drei neue Fächer auf deinem Planer finden. Magie-Theorie, Anwendung praktischer Magie und Funktionsweisen der Magie. In ‚Magie-Theorie‘ lernst du im Prinzip das, was du für ‚Anwendung praktischer Magie‘ brauchst. Welche Voraussetzungen helfen mir besonders gut Magie anzuwenden? Was haben andere schon geschafft und was für Schlüsse kann man daraus ziehen? Verstehst du, was ich meine?“
„Schon klar.“ Genauso hatte sie auch die Sache mit dem Golem herausgefunden.
„Okay. In ‚Anwendung praktischer Magie‘ wendest du dann eben das Gelernte an und lernst die Grundlagen der Technik der Magie. Wenn man es so nennen kann. Dann bleibt noch ‚Funktionsweisen der Magie‘ übrig. Das unterrichte ich. Dort kommt dann das dran, wofür diese Schule wirklich steht. Warum wir euch alle hierhergeholt haben. Damit ihr DAS lernt. In ‚Funktionsweisen der Magie‘ lernt ihr, wie jeder Einzelne für sich Magie am besten ausüben kann und welche verschiedenen Wege es gibt, Magie auszuüben.“
Fiona wusste, dass es DAS war, weswegen sie mit dem schwarzen Mann hierhergekommen war. Sie grinste und sagte: „Klingt gut.“ Sie ahnte, dass sie damit noch um einiges weiterkommen konnte.
„Das Schuljahr läuft übrigens bereits seit zwei Wochen. Du wirst noch ein bisschen aufholen müssen. Hast du noch Fragen? Es gibt doch sicher noch viel, was du wissen willst“, meinte der schwarze Mann. Vor einer halben Stunde hätte Fiona noch so viel zu sagen gehabt. Aber jetzt? Nichts. Der Mut war nicht da. Der Mut sich die Wahrheit anzuhören.
„Was ist mit meinem Golem passiert?“, fragte sie deswegen. Wie banal das war! Wo sie in den nächsten Jahren doch so viel mehr lernen würde. Fiona wusste das auch. Doch sie wollte nicht komplett mundtot bleiben.
„Ich habe ihn gelöscht. Entschuldige bitte“, antwortete der schwarze Mann. Fiona zuckte nur mit den Schultern. Gestern noch wäre sie in Zorn ausgebrochen, wenn ihr Meisterwerk verschwunden wäre. Gestern noch. Heute gab es Wichtigeres. Schließlich brachte sie mit gepresster Stimme ihre wahren Fragen hervor.
„Meine Familie! Wie werden sie es erfahren? Kann ich sie treffen? Dürfen sie überhaupt etwas erfahren? Und meine Freunde?“
In den wenigen Sekunden, in denen sie auf die Antwort des Schulleiters wartete, lief ein Film in Fionas Kopf ab. Tausend verschiedene Antwortmöglichkeiten. Eine schlimmer als die andere. Kurz schien ihr Herz still zu stehen. Der Direktor hingegen wirkte nicht aufgeregt, eher gelassen. Er musste diese Art von Fragen schon oft gehört haben. Sehr oft. Er sprach mit ruhiger Stimme.
„Deine Eltern wissen schon längst davon. Seit deiner Geburt. Alle Eltern bekommen früh genug die Benachrichtigung über das Talent ihres Kindes. Doch erst, wenn sie den zweiten Brief bekommen, erinnern sie sich wieder daran. Deine Eltern haben damals einen Eid abgelegt, unsere Schule nie an die Offiziellen und deren Ministerien zu verraten: Ob sie es zulassen, dass ihr Kind von ihnen getrennt wird oder nicht. Deine Eltern haben sich sehr für dich gefreut und an dein Talent geglaubt. Sie meinten, dass du die Magie leben sollst, solange wir dich nicht zu einem herzlosen Offiziellen machen.“ Fiona entspannte sich etwas. Das erste Problem war gelöst. Auch wenn es eine Antwort gewesen war, die nicht in einer ihrer tausend abgespielten Szenen vorgekommen war, konnte sie gut mit ihr leben. „Gut“, sagte sie. Doch plötzlich überkam Fiona wieder die Panik und sie fragte entsetzt: „Haben meine Eltern diesen Brief denn überhaupt schon bekommen?“
„Ja, ich habe ihnen die Nachricht gleich, nachdem ich dich geholt habe, zukommen lassen. Darin wird alles nochmal genau erklärt. Eigentlich hättest du erst nächstes Jahr eingeschult werden sollen. Du bist also ein Jahr jünger als der Rest deiner Klasse.“
Ein Zucken durchfuhr Fiona. Es war immer schon geplant gewesen? Geplant gewesen, dass sie hierherkam? Wieso? Schnell zwang sie sich zu Ruhe. Es gab jetzt Wichtigeres.
„Das ist … überraschend. Aber gut. Wie ist es denn mit der Verständigung?“
„Du wirst eine Art Handy bekommen. So eins haben alle hier und deine Eltern ebenfalls. Es funktioniert wie ein normales Handy, nur dass es nicht vom Ministerium überwacht werden kann. Du kannst telefonieren und es ist auch ein Art Kommunikationsnetzwerk installiert. Es ist sicherer als das, was du bisher benutzt hast …“
Fiona stieg die Röte ins Gesicht. Die Anspielung war eindeutig. „Ich … nicht … entschuldig…“
„Du musst aus deinen Fehlern lernen. Dann ist alles gut. Jetzt kann man es sowieso nicht mehr ändern. Ich will nur, dass du weißt, in welche Gefahr du dich begeben hast … Und in welcher Gefahr du immer noch bist.“
Mein Name
Ich heiße Josefa. So wie meine Urgroßmutter. Ich habe sie nie kennengelernt, aber meiner Mutter hat der Name so gut gefallen. Also heiße ich Josefa. Ganz einfach. Der Computer unterringelt Josefa gerade rot. Aber das bin ich gewohnt. Es ist ein eher seltener Name, viele kennen ihn nicht. Kein einziges Mal in meinem Leben habe ich in irgendeinem Touri-Geschäft einen Schlüsselanhänger oder ein Armband mit meinem Namen gefunden. Julia? Ja. Johanna? Auch. Vielleicht noch Josefine, aber nie Josefa. Eigentlich macht es mir nichts aus. Ich meine, mein Name gehört zu mir. Wer weiß, ob ich ein anderer Mensch geworden wäre, würde ich anders heißen. Ich mag meinen Namen. Ich finde auch, er passt zu mir. Ich wurde als Josefa geboren, und ich werde auch immer Josefa sein. Auf die Idee meinen Namen zu ändern, würde ich nie kommen. Wie gesagt, er gehört zu mir.
Was man wissen muss
Pia ist 18 Jahre alt und eine Streberin. Es besteht keine gute Verbindung zwischen ihr und ihren Eltern. Pias Freundin Leonie ist ebenfalls 18 und ein Party-Girl. Sie ist sehr hübsch und hat viele Kontakte mit Jungs.
Das Wetter war schön, die Sonne schien und Leonie und ich saßen auf meinen wunderschönen, hölzernen Balkonstühlen. Ich sonnte mich und schlürfte an meinem Cocktail, der ohne Alkohol war, denn ich hasse Alkohol. Alles schien perfekt zu sein. Zu perfekt. Es hatte noch nie einen Tag in meinem Leben gegeben, an dem alles perfekt gewesen war. Deshalb machte ich mir insgeheim doch etwas Sorgen, ob heute noch etwas Schlimmes passieren würde. Was, wenn …
Leonie unterbrach mich in meinen Gedanken: „Morgen soll doch diese coole Party von Ben stattfinden! Gehst du da auch hin?“
„Wer ist gleich wieder Ben?“
„Der Junge aus unserer Parallelklasse. Du weißt schon, der mit den süßen Locken … Der Schwarm aller Mädels.“
„Mhmmm …“ Ich fand das richtig blöd von ihr, dass sie nicht auch sagte, dass auch Jungen auf ihn standen. Immerhin war Fabian auch in ihn verknallt gewesen. (Fabian war ebenfalls in unserer Parallelklasse.)
„Hast du auch eine Einladung bekommen? Ich habe meine ja unter meinem Kopfkissen versteckt.“ Sie kicherte.
„Und du?“ Sie schaute mich fragend an und schlurfte an ihrem Cocktail. Eine lange Pause. Ich hatte KEINE Einladung bekommen. „Ähm … naja …“ Ich wurde rot. Stille.
„Du hast keine Einladung bekommen, oder? Sag es ehrlich, Pia.“ Noch eine lange Pause. Es war mir so peinlich. „Na ja, es gehen ja nur: Lisa, Amélie, Sophia, Anneka Christina, Anna, Mia …“ Nach und nach zählte sie alle Namen auf, die in unserer Klassenstufe waren. „Antonia, Emma, Anika, Eva, Antonio …“
Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Warum waren ALLE eingeladen worden – nur ich nicht?
„Quirin, Mika, Moritz, Justus, Amanda, Pamela, Charlotte …“
„Okay Leonie, ich habe es verstanden! Es sind alle eingeladen worden – nur ich nicht!“ „Nein, das stimmt nicht! Bob wurde nicht eingeladen … Nein, warte mal … Bobs Freundin Paula hat einen Kumpel, der, der Freund ist vom Bruder von Bens bestem Freund. Also, hat Paula ihren Kumpel gefragt, ob er nicht mit seinem Bruder reden kann, der dann Ben überreden sollte Bob auch einzuladen. Ja, und dieser Plan ist aufgegangen. Denn Ben hat sich gedacht, wenn er Bob einlädt, würde Paula bestimmt merken, dass Bob schlecht tanzen kann und dann lieber mit Ben tanzen, der super tanzen kann. Das hat mir die Schwester von Bens bestem Freund erzählt. Du bist also doch die Einzige.“
„Mhmm.“ Ich wusste nicht so ganz, was ich sagen sollte. Sie schaute mich fragend an. „Hast du morgen schon was vor?“ Ich war über diesen schnellen Themenwechsel überrascht. Aber … Stopp … War es überhaupt ein Themenwechsel? Oder meinte sie … „Nein, Leonie vergiss es! Ich KANN nicht auf diese Party gehen! Ich WILL nicht auf diese Party gehen! Und ich MUSS auch nicht! Außerdem, wie soll ich denn dort reinkommen? Ich habe doch keine Einladung!“
Ich dachte an früher …
„Du gehst einfach als meine Begleitung.“ Sie stand auf und warf ihre langen, blonden Haare zurück. „Und wenn ich nicht will?“ „Ach bitte, ich will dort nicht alleine hingehen!“ Ich seufzte. „Biiiiittttteeee!“ Sie schaute mich flehend an. „Na gut. Aber wenn wir erwischt werden, übernimmst du die Verantwortung.“ „Okay, abgemacht.“ Sie lachte und schnappte sich ihre Tasche. „Komm, wir müssen dich noch schick machen.“
Die Party
Am nächsten Morgen trafen wir uns am Eingang der mehrstöckigen Villa. Bens Zuhause. Am Eingang standen zwei schwarzgekleidete Männer. Leonie schritt mutig auf die beiden zu.
„Hallo! Ich heiße Leonie und das ist meine Begleitung Pia. Das hier ist meine Einladung.“ Sie gab den Männern die Einladung und bevor diese noch etwas sagen konnten, huschten wir schon in das Gebäude.
Es erwartete uns ein Gang, der mit vielen Gemälden ausgestattet war. Wunderschön! Es waren bunte Gemälde dabei, schwarzweiße Bilder und Bilder, die offensichtlich ein dreijähriger gemalt hatte. Leonie schien die Kunstwerke gar nicht zu sehen und nahm Kurs auf eine Tür mit der Aufschrift: HIER GETS ZUR PARTIE! Ich erkannte drei Rechtschreibfehler. Leonie wohl auch. Sie lachte und lachte.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein hübscher, großer Junge schaute uns an. Als Erstes schaute er Leonie an, die sofort verstummte, als er kam. Dann taxierte er mich und sein Blick wanderte von meinen braunen Haaren hinunter bis zu meinen Füßen, die in viel zu großen High Heels steckten. Ich fühlte mich unwohl. Zum einen, weil ich mir nicht sicher war, ob er erkannt hatte, dass ich nicht eingeladen worden war, und zum anderen, weil er mich mit seinem Blick scannte.
Leonie schaute zu mir rüber. Sie erkannte wohl, dass ich mich unwohl fühlte und stellte sich vor mich. Sie lächelte den Jungen an und begann wild mit den Armen zu fuchteln. „Hallo, Beni! Na, wie läuft die Party?“ Das war Ben? Er schaute Leonie an und lächelte. „Ja, läuft alles super. Kommt doch rein!“
Der Raum war mit Party-Licht erfüllt und es gab auch eine kleine Bar. Auf der Tanzfläche, die sich mitten im Raum befand, waren hunderte von tanzenden und lachenden Leuten. Ich setzte mich zuerst an die Bar und bestellte mir eine Apfelschorle.
Leonie war auf die Tanzfläche gegangen. Ich schaute ihr zu, wie sie sich bewegte: wie eine gelernte Profi-Tänzerin. Ich nippte an meiner Apfelschorle und als ich wieder aufsah, war Leonie von einer Horde Jungs umgeben.
Ich drehte mich um und sah in das Gesicht eines Jungen, der etwas älter war als ich. Er grinste zu mir rüber. „Lust, mit mir was zu trinken?“ Ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht in der Stimmung. Außerdem trank ich keinen Alkohol. „Ach komm!“ Er gab nicht nach. „Nein, danke!“ Ich wurde langsam wütend. Jetzt schwieg er.
Ich schaute wieder zu Leonie. Sie tanzte eng umschlungen mit einem schwarzhaarigen Jungen. Der Junge neben mir sah auch zu ihr rüber. Tat das aber nicht lange. Stattdessen betrachtete er wieder mich. „Sie ist schon hübsch.“, sagte er.
Ich nickte. Sie war echt hübsch. „Aber es kommt ja nicht auf das Aussehen an“, fügte er gleich hinzu. Er sah für mich schon so aus, als würde er immer nach dem Aussehen urteilen. „Ne.“ „Aber nicht, dass du denkst, dass du nicht hübsch bist“, meinte er.
Ich sah ihn an. Er schaute zurück, und einen Augenblick später tranken wir zusammen und ratschten. Nach zehn Minuten bestellte er einen Rotwein.
Es war zu perfekt, wie ich immer sage. Leonie hatte jetzt aufgehört zu tanzen. Der Junge neben mir und ich plauderten über unser Leben. Ich erzählte ihm von Hanna, und wie sie gestorben war. SIE, meine beste Freundin. Mir stiegen Tränen in die Augen. Er nahm meine Hand. „Is do scho alle … hicks … länGst vorBei.“ Ich merkte erst jetzt, dass die Flasche Rotwein schon leer war. „DiE Zukunft is no vOr Uns …“ Ich wusste nicht, was er mit UNS meinte.
Da nahm er plötzlich meine Hand. Ich zog sie zurück. Dann packte er mich fest am Arm. Ich wollte mich befreien, aber sein Griff war viel zu stark. Er zog mich mit aller Gewalt zu sich rüber. Ich konnte nichts tun. Er kam immer näher. Ich geriet in Panik. Mein Blick verschwamm.
Da … ,Patsch‘ – eine Hand traf den Jungen auf die linke Wange … und ,Patsch‘ – eine zweite Watsche. Er ließ von mir ab. Ich taumelte nach hinten. Dann sah ich … Leonie, die mit hochrotem Kopf vor dem Jungen stand. „FASS MEINE FREUNDIN NICHT AN!“ Ich hatte sie noch nie so wütend erlebt. Als er sich wieder gefasst hatte, verschwand der Junge in der Menge.
Ich starrte Leonie an. Sie starrte zurück. „Das war der absolute Hammer, Leonie … Danke!“ Sie lächelte und umarmte mich. Ein paar Sekunden standen wir nur da, als plötzlich Ben zu uns stieß. „Was wollte er?“ Er hatte wohl alles gesehen. Warum hatte er nicht eingegriffen? Sein Blick war kalt und voller Wut. Er sah mich besorgt an. Dann ging er zu der Bar und bestellte mir einen Cocktail. Ich hatte eigentlich keine Lust auf einen Cocktail, aber nach dem Schrecken …
Eine Stunde war vergangen. Ich hatte jetzt schon vier Gläser getrunken. Ich konnte nicht mehr, aber Ben schenkte mir immer wieder nach. Ich konnte nicht mehr klar denken. Mein Blick verschwamm. Als ich das fünfte Glas trank, wurde alles schwarz vor meinen Augen. Ich fiel und fiel …
Ich lag in meinem Bett. Leonie war bei mir. Ich wollte mich bewegen, aber mein Körper war so schwer wie ein Stein. Als Leonie mich bemerkte, beugte sie sich über mich und schaute mich besorgt an.
„Alles wieder gut bei dir?“ Ich richtete mich auf. Mein Schädel brummte wie in einem Bienenstock. „Ja, einigermaßen.“ Alles kam mir wie ein Traum vor. Die Party, der viele Alkohol und … Ben. „Was ist passiert?“
„Du … naja, warst plötzlich weg. Und nach dem vielen Alkohol, den du getrunken hattest, machte ich mir Sorgen … Ich habe dich gesucht, Pia! Alle haben dich gesucht! Irgendwann kam Ben zu uns … und sagte, dass er dich gefunden habe. Bewusstlos. Auf dem Sofa.“
Ich starrte sie an. Ich konnte mich an nichts erinnern. Alles schien verloren zu sein. „Aber … ich … also … ich kann mich an nichts erinnern!“ „Kein Wunder, nach dem vielen Alkohol.“ Sie lächelte. „Ich gehe erst, wenn es dir wieder bessergeht.“ „Du kannst ruhig gehen. Ich muss mich nur mal etwas sammeln.“ „Bist du sicher?“ „Ja, ich bin mir sicher.“
Leonie packte ihre Tasche. „Ich lasse dir mal das hier da.“ Sie holte einen Schwangerschaftstest aus ihrer Tasche und legte ihn auf meinen Beistelltisch. Bevor ich nachfragen konnte, warf sie ihren Mantel über und ging aus der Tür.
Ich brauchte einige Minuten, um mich zu sammeln. Ich hatte noch so viele Fragen … Wie war ich hierhergekommen? Und, was sollte das mit den Schwangerschaftstest? Naja, ich würde sie morgen fragen. Sollte ich? Nein! Ich war nicht schwanger! Ich doch nicht. Aber, was, wenn doch?
Ein Versuch konnte nicht schaden. Ich ging auf die Toilette.
Der Schwangerschaftstest
Ich starrte auf die zwei roten Striche. Mein Atem erstarrte. Meine Hände erschlafften. Mein Körper bebte und Angstschweiß kroch meine Stirn hinunter. Ich konnte und wollte es nicht glauben.
War das die schreckliche Realität? Ich war schwanger! Ich begann zu schreien. Dann zu weinen. Würde mir das gleiche Schicksal widerfahren wie Hanna? Nein! Ich würde niemals abtreiben. Ich würde nicht mein Kind umbringen. Mein Kind, das in mir wuchs und mich begleitete. Niemals! Aber wie? Wie sollte ich es schaffen mit einem Kind, dessen Vater ich nicht kannte? Wer würde mich unterstützen auf diesem harten Weg? Meine Eltern sicher nicht. Unser Verhältnis war zu schlecht. Ich dachte nach. Wer würde mich unterstützen? Mich nicht hängen lassen? Jetzt wusste ich es. Ich schleppte mich durch meine Wohnung zum Telefon. Ich suchte und fand die Nummer von … Leonie. Es piepte. Dann hörte ich Leonies Stimme. „Hallo? Hier Leonie Luné. Was kann ich für Sie … Ach, Pia! Du bist es. Was … ?“ „Ich bin schwanger.“ Ich heulte.
„Ich komme sofort, Pia. Alles wird gut.“ Sie fragte nicht nach, oder geriet wie ich in Panik. Sie war ernst geworden. So war sie sonst nie. Zehn Minuten später flog die Tür auf. Leonie stürzte herein. Sie weinte nicht. Sie schrie auch nicht. Sie war auch nicht außer Atem, obwohl sie die fünfzig Treppenstufen zu meiner Wohnung hochgerannt war. Sie stand nur in der Tür und sagte mit einer Stimme, vor der ich mich fürchtete:
„Ab heute wird sich ALLES ändern.“
Am 18. Juli kam ein Kind in Indien auf die Welt. Es war nicht zu groß oder zu dünn. Es war normal und doch zu Großem bestimmt. Serafina! Ihr Vater war Künstler und die Mutter unterstützte ihn. Von ihm hatte die Kleine auch das künstlerische Talent geerbt.
Serafina lebte zusammen mit ihren Eltern glücklich in einem kleinen Haus. Als sie vier Jahre alt war, kam ihr Bruder auf die Welt. Ihre Mutter hatte ihr Leben für ihn geopfert. Seitdem verfolgte die Familie das Pech. Der Vater fand keine Arbeit mehr und sie mussten umziehen, da die Miete zu hoch war. Von nun an lebten sie in einer kleinen Scheune ohne Heizung und Küche. Serafina musste zum Betteln gehen, weil der Vater nur noch sehr wenig Geld verdiente. Oft gab es nichts oder nur sehr wenig zu essen. Serafina verstand die Menschen, die Reichen und die Armen, denn sie war beides gewesen.
Dann, es war, als das Mädchen sechs war, und ihr Bruder anfing zu sprechen, geschah es. Etwas Schreckliches! Serafina kam am späten Abend von ihren Betteltouren zurück und sah ihr Haus. Es stand in Flammen! Das Feuer loderte im Dachstuhl, nicht mehr lange und es würde auch der Rest des Hauses brennen. Ohne zu überlegen, rannte Sera los. Sie hörte ihren kleinen Bruder schreien. Das war das einzige Geräusch, das sie hörte. Sie riss ihn aus seinem Bett und rannte der frischen Luft entgegen. Ihr kleiner Bruder lag weinend in ihren rußigen Armen. Der Vater war in den Flammen zurückgeblieben.
Jetzt musste das junge Mädchen mit sechs Jahren für sich und ihren kleinen Bruder sorgen. Allein! Sie schaffte es nicht lange. Schon nach wenigen Tagen war ihr Bruder weg. Er wurde gestohlen, als sie betteln ging. Sie machte sich schreckliche Vorwürfe, nicht gut genug auf ihn aufgepasst zu haben. Doch es half nichts.
Bald wurde sie von einem Mann geschnappt und als Sklavin verkauft. An ihren jetzigen Herrn. Was aus ihrem Bruder geworden war, wusste sie nicht. Er war zu jung, um versklavt zu werden. Sie hatte nur noch das Foto.
Sie blickte auf die Runzeln in seinem Gesicht, seine eingefallenen Wangen, den Stock, den seine knochige Hand umklammerte, um seinen gebeugten Rücken zu stützen – das zeigte alles sein hohes Alter. Nur die himmelblauen Augen, die strahlten wie eh und je, ließen Claras Großvater oft jünger erscheinen, als er tatsächlich war. Doch in dem Moment lachten diese Augen nicht, sondern sie blickten so ernst, wie die Vierzehnjährige es bisher kaum gesehen hatte. Seine heisere Stimme durchbrach die Stille des frühen Morgens: „Ich kann dich nicht mehr umstimmen, oder? Du weißt doch, wie gefährlich …“ Angesichts ihres unverändert entschlossenen Gesichtsausdrucks brach er ab und seufzte ergeben. „Du weißt doch genauso wie ich, dass es nötig ist. Ich kann hier nicht bleiben, du kennst den Grund ja. Außer dir hält mich sowieso nichts mehr hier, seit …“ Claras Stimme versagte und sie schluckte bei dem Versuch, den Kloß in ihrem Hals loszuwerden.
Sie wollte nicht daran denken, was der Grund war, weshalb sie fortmusste. Weshalb sie den Ort, an dem sie aufgewachsen war, verlassen musste. Der Grund war nicht, dass sie keine Freunde hatte. Oder ihre Familie, die ihr schon lange nichts mehr bedeutete, denn sie war sowieso schon immer allen egal gewesen, außer … Stopp. Das war jetzt unwichtig. Sie musste sich auf die bevorstehende Reise konzentrieren, denn die würde sicherlich alles andere als leicht und ungefährlich sein.
Clara holte tief Luft. „Ich bin bereit, Großvater.“ Ein tiefes Seufzen war seine Antwort. Die Trauer, seine Enkeltochter zu verlieren, spiegelte sich in seinen blauen Augen. Doch dann erhob sich Claras Großvater mit einem Stöhnen angesichts seiner steifen Glieder und humpelte hinüber zum Schreibtisch am Ende des Raumes. Die vom Alter dunklen Dielen knarzten unter seinen Füßen. Als der Alte die oberste Schublade aufzog, schien sie klagende Laute von sich zu geben. Clara konnte nur hoffen, dass von dem Lärm niemand aufwachte. Denn sollte jemand herausfinden, was sie plante, so würde das weder für sie, noch für ihren Großvater ein gutes Ende nehmen. Sie schauderte bei dem Gedanken. Denn sie konnte nur erahnen, welch grausame Foltermethoden sie bereithielten, um ihnen die Wahrheit zu entlocken. Plötzlich überfielen sie Zweifel an ihren Fluchtplänen mit ganzer Macht. Nicht nur würde sie diesen Ort höchstwahrscheinlich nie wiedersehen. Sondern sie brachte sowohl sich selbst als auch ihren Großvater in Gefahr. Zwar war er durch seinen Rang als Seher geschützt, aber sie suchten schon lange einen Grund, gegen ihn vorzugehen.
Claras Großvater nahm etwas aus der Schublade. Trotz ihrer Furcht war das Mädchen neugierig. Das, was er in den Händen hielt, bildete die Grundlage der Macht ihrer Familie. Was konnte nur so besonders sein? Sie machte einen Schritt auf ihn zu – und erstarrte. Sie hatte etwas gehört. Es war fast geräuschlos, ein kaum vernehmbares Tapsen. Doch ihr bisheriges Leben hatte sie gelehrt, sich davor in Acht zu nehmen. Clara schaute zu ihrem Großvater. Auch er hatte es vernommen. Seine Augen hatten sich geweitet und seine Gestalt sah noch zerbrechlicher aus als sonst. Er bedeutete ihr, sich zu beeilen. Sofort war sie bei ihm. Der Seher öffnete seine Hände.
Dort war Licht. Wirbelndes, wütendes Licht. Jedenfalls erschien es Clara, obwohl das offensichtlich unmöglich war, so. Der Vierzehnjährigen war mit einem Mal übel. Niemals konnte sie dem vertrauen. Das Tapsen verstummte. Dann erklang etwas, das sich anhörte, als machte ein Tier, vielleicht eine Katze, einen Satz. Das Wesen auf der anderen Seite der Wand landete auf der Türklinke, die Tür schwang auf und knallte gegen die Wand. Das Geräusch hallte durch das ganze Gebäude. Innerhalb kürzester Zeit würden die Wachen da sein. Doch das war nicht das Schlimmste. Das Wesen machte sich zum Angriff bereit. Claras Schrei weckte alle anderen, die noch geschlafen hatten, aber es war ihr egal. Sie drehte sich wieder zum Licht.
„Spring, Clara! Schnell!“, rief ihr Großvater mit bebender Stimme. Sie stolperte auf das pulsierende Licht zu. Die Welt um sie herum wurde größer und größer, oder vielleicht wurde sie auch kleiner, und dann befand sie sich völlig schwerelos im Licht. Es war völlig unmöglich, dass das hier passierte, war ihr erster, merkwürdig verschwommener Gedanke. Dann blickte sie hinauf, nur um zu sehen, wie ihr Großvater von dem gewaltigen Wolf ihres Vaters angesprungen wurde. „Aaaaaaaaaaaaaaaaaaah!“, das war das zweite, das ihr durch den Kopf schoss. Dann wurde alles schwarz.
Nach einer Zeit, die sie nicht genau bestimmen konnte, wirbelte das Licht noch immer um Clara herum. Aber es erschien ihr nicht mehr bösartig, sondern irgendwie beruhigend, einschläfernd. Es gab ja auch nichts zu tun, hier in diesem Lichtwirbel. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie fiel oder schwebte. Wenn sie sich bewegen wollte, konnte sie es einfach tun. Manchmal drehte sie sich ein bisschen, um eine bequemere Position zu finden. Doch die meiste verworrene, ewig lange Zeit schlief sie. Licht war erstaunlich gemütlich. Es gab keinen Schmerz hier, keine Angst, keine Zweifel und Sorgen … Keine Freude, kein Glück … Doch das machte Clara nichts aus. Sie war völlig zufrieden mit diesem Fehlen von Gefühlen, dem dumpfen, sorglosen Sein … Eigentlich konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, wie es war, etwas anderes zu fühlen. Auch ihre Erinnerungen an ihr bisheriges Leben schienen zu fehlen. Natürlich stimmte das nicht, alles war noch da, sie müsste nur danach suchen, aber das war so viel Arbeit … Sie würde es später machen. Vielleicht. Schließlich war es doch besser, einfach zu vergessen, oder?
„Clara! Claaaara!“ Was war das? Mit einem Schlag schreckte das Mädchen auf. „Clara! Komm zu dir! Vergiss nicht, wer du bist! Fang an zu suchen! Du hast nicht viel Zeit! Ich kann dir nicht mehr helfen … Erinnere dich …“ Die Stimme entfernte sich wieder, klang ab und verstummte schließlich. Das war ihr Großvater gewesen, daran zweifelte Clara nicht einen Moment. Aber was hatte sie vergessen? Warum fiel ihr einfach nicht ein, worüber er geredet haben konnte? Was tat dieses Licht ihr an? Plötzlich begann sie zu husten, musste würgen und erbrach sich. Etwas schleimiges Dunkles kroch aus ihr heraus, wand sich aus ihrem Mund heraus und verschwand. War es die böse Natur des Lichts, die so die Kontrolle über sie gewonnen hatte? Der Gedanke ließ sie noch mehr würgen, bis sie irgendwann zitternd dalag. Die ganze Benommenheit war verschwunden, sie konnte endlich wieder klar denken. Wie hatte es nur so weit kommen können?
Sie hatte doch die Geschichten gehört, hatte gelauscht, wenn die Mägde sich beim Wäscheaufhängen die neuesten Erzählungen über diesen geheimnisvollen Gegenstand, der vermutlich ein Portal öffnen konnte, zuraunten. Warum hatte sie ihnen nicht geglaubt, dass es gefährlich war? Stattdessen hatte sie sich vom Lichtwirbel verführen lassen, hatte die Verantwortung für ihr Leben abgegeben. Zwar verstand sie es noch immer, wusste, wie groß die Verlockung war, dem Angebot des Vergessens zu folgen. Aber trotzdem … Wie hatte sie nur so dumm, so leichtsinnig sein können? Egal. Die Vierzehnjährige richtete sich auf und atmete tief durch, nicht nur, um wieder zu Luft zu kommen, sondern auch als Versuch, ihre Gedanken zu klären.
Ihr Großvater musste tot sein. Niemand überlebte einen Angriff dieses Wolfes. Und das war ihre Schuld … Durch ihre Flucht hatte sie ihnen einen Grund gegeben, ihn anzugreifen … Sie hatte Glück, dass er es davor noch geschafft hatte, sie zu warnen. So war es schon immer gewesen. Er hatte sie gerettet, hatte ihr geholfen, wenn sie unglücklich gewesen war. Der Gedanke an ihn hatte sie immer mit einem Gefühl von Geborgenheit und Glück erfüllt. Und jetzt lebte er nicht mehr … Verwundert schmeckte Clara etwas Warmes, Salziges und Nasses. Sie hatte die Tränen nicht bemerkt. Aber sie durfte sich nicht erlauben zu trauern. Sein Tod war nur noch ein weiterer Grund, sich auf den Weg zu machen. Sie hatte eine Mission zu erfüllen.
Das Licht wirbelte schneller und schneller. „Dieses Mal bist du uns entkommen. Aber wir werden dich nicht vergessen. Wenn du es nicht erwartest, werden wir zuschlagen.“ Hatte Clara sich diese Worte nur eingebildet? So leichtgläubig war sie nicht. Das Licht würde tatsächlich Rache nehmen. Irgendwann. Doch jetzt musste sie sich konzentrieren. Denn was war das andere gewesen, das ihre Ohren vernommen hatten? Angeblich war sie dem Licht entkommen … Dann öffnete ein Loch unter ihr und sie stürzte herab.
Ihr Schrei verebbte vor Erstaunen sofort. Unter ihr erstreckte sich eine weitläufige Landschaft. Sie wäre aber schöner anzusehen, wenn sie nicht so eintönig wäre: Riesige Kornfelder neben Maisfeldern, die ebenfalls kein Ende zu nehmen schienen. Außerdem lag ein beißender Geruch in der Luft, er kam eindeutig von den Pflanzen da unten. Von den vielen verschiedenen Vögeln und dem geschäftigen Summen und Brummen der Insekten, die sie von zu Hause so gut kannte, fehlte jede Spur. Dann erblickte sie etwas, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ: Ein unbeschreibliches Ungeheuer, lang und glänzend, das sich schrecklich schnell über das Land schlängelte und wand. Seine schillernde Haut reflektierte das Licht so stark, dass sie beinahe davon geblendet wurde. Was konnte das sein? Es schien an diesem fremden Ort so viel Ungewohntes zu geben. Wie würde sie sich also je hier zurechtfinden, geschweige denn, ihre Aufgabe erledigen?
Ich bin eine Buchfigur
Es ist egal, wer ich bin. Denn ich existiere nicht. Ich habe keine Eltern, sondern entspringe der Feder eines Menschen. Ich werde niemals altern oder sterben, nur verblassen, wenn ich vergessen werde. Eigentlich habe ich sogar Glück, dass ich bewegt werde. Dass diese Handlung für mich niedergeschrieben wird und ich nicht einfach ohne Sinn bin, körperlos und seelenlos. Die meiste Zeit hätte ich nicht einmal die Fähigkeit zu denken. Aber es ist ein Glück, dass wir, die Figuren der Menschen, eine eigene Sprache erfunden haben. Einen Ausweg, um der allumfassenden Macht unserer Erzeuger wenigstens ein kleines bisschen zu entfliehen.
Jeder Gedanke, jeder Beginn einer Geschichte lässt neue Figuren entstehen, von denen die allermeisten nicht viel später verblassen. Die Figuren der sogenannten Schriftsteller fristen jedoch ein besonders elendes Dasein. Denn sie werden meistens noch mit zahlreichen Eigenschaften, einer Geschichte, einem Aussehen und verschiedenen Charaktereigenschaften versehen, mit zahlreichen Details ausgeschmückt, bevor sie verworfen werden. Für jene ist es viel schwieriger zu entschwinden, da sie sich dafür noch selbst vergessen müssen, auch wenn ihre Urheber das schon längst getan haben. Ist es wirklich so schwer uns einfach mit ein bisschen Respekt zu behandeln? Wenn ihr uns schon erfindet, dann ist es doch wohl in eurer Verantwortung, euch ein bisschen um uns zu kümmern! Uns nicht zu vergessen!
Das Schlimmste aber ist es, geteilt zu werden. Könnt ihr euch die schrecklichen Qualen vorstellen, die eine Buchfigur befallen, wenn sie gleichzeitig von verschiedenen Personen gelesen wird? An verschiedenen Orten gleichzeitig sein muss? Aber es ist ja sinnlos. Eine Stimme wurde mir nur kurz geschenkt und wird mir gleich genommen werden. Dann, wenn diese Geschichte endet.
Jeder Mensch erscheint sich selbst so wichtig
Jeder Mensch erscheint sich selbst so wichtig. Wie soll es auch anders sein? Man fühlt nur seine eigenen Gefühle, denkt nur seine eigenen Gedanken. Es ist unmöglich, eine andere Person zu sein als die, die man ist. Vielleicht stimmt das nicht, vielleicht kann man wirklich spüren, wie es ist, jemand anderes zu sein. Aber das ist es nicht, worauf ich hinauswill: Letztendlich ist das alles unbedeutend. Es gibt 7,89 Milliarden Menschen. 7,89 Milliarden verschiedene Gefühle, Gedanken. Die Erde existiert seit schätzungsweisen viereinhalb Milliarden Jahren. Das Universum gibt es schon viel länger. Möglicherweise seit Anbeginn der Zeiten, obwohl es mir schwerfällt, mir vorzustellen, dass es wirklich nichts davor gab. Es ist doch unmöglich, dass Zeit einen Anfang oder ein Ende hat, oder? Ich werde es wohl nie genau erfahren.
Aber die Zeit der Menschen wird nicht ewig andauern. Irgendwann wird etwas passieren, das zu unserem Untergang führen wird. Wird es je wieder Lebewesen wie uns geben? Die unsere Spuren finden können, sodass wir zu unseren Lebzeiten nicht das Gefühl haben müssen, vergessen zu werden? Die Wahrscheinlichkeit ist sicherlich gering, obwohl ich nicht die Richtige bin, um das einzuschätzen. Wie kann es also wichtig sein, was uns passiert? Ob eine Person mehr oder weniger stirbt, ob wir unsere Welt töten oder sie uns? Oder ist doch das Kleine wichtig?
Sofia
Wasser! Hilfe! Ich musste trinken. Sofort. Ich stolperte aus der glühenden Sonne in den Schatten eines Olivenbaums. Meine Beine gaben unter mir nach und ich sank gegen den knorrigen Stamm. Ich wusste, dass die nächste Wasserstelle viel zu weit weg war, um sie rechtzeitig zu erreichen. Ebenso war mir klar, dass ich das nicht überleben konnte. Ich musste aufgeben. Vertrocknete Grashalme stachen durch meine grobe Leinentunika. Kleine, harte Erdkrümel bohrten sich in meine Handflächen. Ich wollte schlucken, doch meine staubtrockene Zunge konnte mir diesen einfachen Dienst schon seit fast einem Tag nicht mehr erfüllen.
Langsam fielen meine Augen zu. Meine Gedanken waren träge, ich fühlte mich merkwürdig benommen. Bestimmt würde es nicht schwer sein, ich würde sicher keinen Schmerz verspüren, ich würde einfach einschlafen, der Tod wäre wie eine weiche Umarmung … Mein Leben war weitestgehend gut gewesen, selbst wenn ich es nicht in das Elysium schaffen würde … Das Plätschern von Wasser und leises Kichern. War das der Tod? Irgendwie hatte ich mir das nie so vorgestellt. Wieso hörte ich Wasser? Hatte Hermes, der bekanntlich die Seelen der Verstorbenen zum Eingang der Unterwelt brachte, mich das einbilden lassen, um mich zu quälen? Ich könnte die Augen öffnen und nachschauen …