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Stadtfreiheitstag 2023 - Festrede von Dr. Jasmin Jossin

Die Freiheitsgrade, die uns bleiben: Transformatives Lernen für eine nachhaltige Stadtentwicklung - Festrede von Dr. Jasmin Jossin

- Es gilt das gesprochene Wort - 

Liebe Frau Oberbürgermeisterin Maltz-Schwarzfischer, liebe Festgäste,

herzlichen Dank für die Einführung und für die ehrenvolle Einladung! Ich freue mich sehr, heute Abend darüber sprechen zu dürfen, welche Rolle die Psychologie und die Bildung in einer freiheitlichen und zukunftsorientierten Stadt spielen können.

Im letzten Jahr hat Johannes Wallacher an dieser Stelle ausgeführt, dass Nachhaltigkeit und Freiheit eher Verbündete als Gegenspieler sind. Denn momentan schränken wir mit unnachhaltigen Praktiken die Freiheit von anderen Menschen und von zukünftigen Generationen immer mehr ein: Wir schränken ihre Freiheitsgrade ein, eigene Wege für ein gutes Leben finden zu können. Sei es durch Ressourcenmangel, durch ungleich verteilte Umweltbelastungen oder durch erzwungene Migration. Herr Wallacher hat resümiert, dass wir einen Kulturwandel dazu brauchen, was wir als Wohlstand wahrnehmen und wie wir darüber nachdenken können, was wir eigentlich wirklich brauchen.

Ich knüpfe heute Abend gerne an seine Rede an. Denn ich bin ebenfalls überzeugt davon, dass dieser Kulturwandel eines der wichtigsten Dinge ist, die wir brauchen. D.h. für uns alle, konkrete Hilfestellungen zu bekommen, uns innerlich verändern zu können – also transformativ zu lernen. Ich muss vorwegschicken: Mit einer knapp halbstündigen Rede kann ich das nicht einlösen. Dazu bräuchten wir einen gemeinsamen Austausch und Sie die Möglichkeit, über sich selbst nachzudenken. Ich hoffe aber trotzdem, dass Sie ein paar Anregungen mitnehmen können – insbesondere für Ihre Rolle, mit der sie die Entwicklung Regensburgs begleiten und beeinflussen können.

Zunächst ein paar Worte dazu, wo wir gegenwärtig mit der nachhaltigen Entwicklung stehen:

Leider stehen wir. Global gesehen sind wir weit davon erreicht, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu erreichen. Bei vielem laufen wir sogar in die falsche Richtung. Das gilt auch für die Kommunen in Deutschland, die eine ganz zentrale Rolle haben, weil vieles nur im Lebens- und Arbeitsumfeld der Menschen umgesetzt werden kann. Es gibt natürlich positive Entwicklungen, zum Beispiel im Bereich der erneuerbaren Energien. Die reichen aber für den Klimaschutz bei Weitem nicht aus. Denn die Deutschen verursachen immer noch viel zu viel Abfall, fahren immer mehr Autos und wollen immer noch großzügiger wohnen [1] – auch in Regensburg [2]. Ähnlich ernüchternde Entwicklungen sehen wir bei vielen sozialen Zielen in den deutschen Kommunen. Das sind natürlich Aussagen, die auf durchschnittlichen Zahlen beruhen, und Statistiken sind nicht alles. Es ist also wichtig, vor Ort auch qualitativ zu beobachten und eigene Schwachstellen auch auf anderen Wegen zu identifizieren. Und natürlich, lokale Stärken auszubauen und damit auch Erfolge zu feiern, so wie Sie heute.

Insgesamt aber sind diese Entwicklungen nichts Neues. Wir wissen es eigentlich längst besser. Und trotzdem sind wir so langsam. Warum ist das so?

Eine Initiative aus Nachhaltigkeitspraktikerinnen und Nachhaltigkeitspraktikern und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, in der ich selbst involviert bin, hat vier verschiedene Gründe für diese Trägheit aus der kommunalen Perspektive zusammengetragen. Die ersten drei mache ich heute Abend kurz:

  1. Wissenslücken in der Wissenschaft
  2. unzureichender Transfer von Wissen in die kommunale Praxis
  3. die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen von Kommunen – z.B. eine Förderlandschaft, die Reformen braucht

Der vierte Grund, warum wir in den Kommunen nicht schnell genug vorankommen, sind wir Bürgerinnen und Bürger. Wir beeinflussen mit unserem Verhalten entscheidend mit, wie nachhaltig unsere Stadt oder Gemeinde ist. Natürlich zum Einen im Privaten. In vielen Fällen ist aber noch viel entscheidender, welche Entscheidungen wir am Arbeitsplatz, in der zivilgesellschaftlichen Organisation oder in der Politik treffen. Es ist also hilfreich, wenn wir uns beim Kulturwandel nicht nur die allgemeinen Bürgerinnen und Bürger vorstellen, sondern insbesondere die Akteurinnen und Akteure in der Stadt in den Blick nehmen, deren Entscheidungen und Verhalten viele andere beeinflussen.

Stellen wir uns einmal die gesamte Stadtgesellschaft vor – die kann man grob in drei Gruppen einteilen, und wahrscheinlich kennen Sie alle Beispiele aus den drei Gruppen persönlich. Am einen Ende sind diejenigen, die selbst ziemlich nachhaltig leben, sich stark engagieren und versuchen, die anderen zu überzeugen - was angesichts der besorgniserregenden Entwicklungen bei manchen in Verzweiflung und streitbaren Entscheidungen resultiert, siehe letzte Generation. Am anderen Ende gibt es diejenigen, die sich dem Thema Nachhaltigkeit verweigern, ob bewusst oder unbewusst. Diese Menschen lassen sich vermutlich am ehesten über Besteuerungsmodelle, Sanktionen und Verbote bewegen. Wobei Verbote psychologisch gesehen auch insofern problematisch sein können, weil sie etwas allein durch das Verbot noch attraktiver erscheinen lassen. Die breite Mitte findet Nachhaltigkeit eigentlich wichtig und tut so manches, aber nicht in allen Bereichen, nicht konsequent und hat oft Rechtfertigungen parat. Diese Gruppe orientiert sich am Mainstream und ist diejenige, auf die sich die Bemühungen um den Bewusstseinswandel konzentrieren sollten, um irgendwann die kritische Masse zu erreichen – also der Punkt, ab dem nachhaltige Praktiken zur sozialen Norm werden.

Wie kann man die breite Mitte der Gesellschaft mehr in Richtung Nachhaltigkeit bewegen?

In der Psychologie gibt es einige Erklärungsansätze zum menschlichen Entscheiden und Verhalten. Sie unterscheiden sich in ihren Akzentuierungen, aber in einem wichtigen Punkt stimmen sie überein: das Wissen (Problemwissen) beeinflusst Verhalten natürlich, aber der Einfluss ist eher klein. Bei der Entscheidung zu einem Verhalten spielen viele andere Dinge eine wichtige Rolle, z. B. Werte, Einstellungen, oder was man für „normal“ hält. Selbst zwischen der Absicht, sich nachhaltig zu verhalten und dem tatsächlichen Verhalten liegen manchmal Welten. Schuld ist daran oft die Gewohnheit. Vielleicht kommt Ihnen das bekannt vor, falls Sie sich schon mal gute Vorsätze gemacht haben. Das Ablegen von Gewohnheiten ist anstrengend und funktioniert daher nur, wenn wir ausreichend Kapazitäten dafür haben (wenn man z. B. die ersten Tage des neuen Jahres noch im Weihnachtsurlaub ist und es dann mit den guten Vorsätzen noch klappt). Eine gute Gelegenheit, Gewohnheiten abzulegen, sind Lebensereignisse, die den Alltag ohnehin aufbrechen – wie ein Umzug. So könnte z.B. eine Stadt neu Zugezogenen ein Monatsticket für den ÖPNV schenken und damit fördern, dass sie sich angewöhnen, die meisten Strecken in der Stadt mit Bus oder Bahn zurückzulegen, auch wenn sie ein Auto besitzen.

Das ist ein Beispiel für viele mögliche Ansätze zur Verhaltensänderung auf freiwilliger Basis. Die werden auch „Nudging“ genannt, das steht für „Anstubser“. Viele Strategien, die da zum Einsatz kommen, werden auch in der Werbung verwendet. Insofern ist die Kritik, dass Nudging manipulativ ist, in manchen Fällen nicht von der Hand zu weisen. Es gibt aber durchaus sinnvolle Werkzeuge, mit denen man viele Menschen erreichen kann. Vielleicht haben Sie schon von Green Defaults gehört – wenn man also als Grundeinstellung mit erneuerbarer Energie versorgt wird und sich für konservative Anbieter aktiv ummelden muss, anstatt umgekehrt. Für einen grundlegenden Bewusstseinswandel der Menschen reichen solche Ansätze aber nicht aus – oft wirken sie eher nur in der einen Situation. Da kommt die Rolle von Bildung für nachhaltige Entwicklung ins Spiel.

Vielleicht kurz zur Einordnung: Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein Ansatz, den vor allem die UNESCO ab den 90er Jahren nach der Rio-Konferenz geprägt hat. Davor gab es vor allem die Umweltbildung, die stark auf Wissen und auf solche punktuellen Verhaltensänderungen gesetzt hat und damit unzureichend war. Mit der Agenda 21 hat man Nachhaltigkeit allmählich ganzheitlicher gesehen, und das sollte sich auch in den Bildungsansätzen wiederfinden. Trotzdem hatte die frühe Bildung für nachhaltige Entwicklung noch ein gewisses „Erziehungsverständnis“, das bei Vielen als Bevormundungsversuch ankommt. Später hat man sich stärker auf diverse Kompetenzen konzentriert. Damit wurde die Bildung für nachhaltige Entwicklung auch mehr als lebenslanger Lernprozess gesehen. An der Stelle wird deutlich, warum die Kommunen wichtig sind, auch wenn Bildung in erster Linie keine kommunale Aufgabe ist: Verwaltung und Politik können dazu beitragen, dass sich die diversen Akteure der formalen und informellen Bildung vernetzen. Diese Vernetzung erleichtert es, längerfristige, ineinander greifende Bildungsprozesse (z.B. von Kita, Schule bis zur Berufsausbildung) möglich zu machen und die auch lokal zu verorten. Trotzdem waren bislang viele der Kompetenzen, die man trainieren wollte, darauf ausgelegt, gut in der aktuellen Gesellschaft zu funktionieren – also sich z.B. dem neo-liberalen Wirtschafts- und Konsummodell erfolgreich anzupassen, anstatt es grundsätzlich infrage zu stellen [3]. An der Stelle ist die Integration von Ansätzen des transformativen Lernens in die Bildung für nachhaltige Entwicklung eine wichtige Weiterentwicklung.

Was ist transformatives Lernen?

Das transformative Lernen zielt auf zwei Dinge:

  1. Dass eine Person von sich aus eigene, grundlegende Überzeugungen und Werte verändert und
  2. Gemeinschaften zu stärken.

Die grundlegenden Veränderungen in der Person lassen sich anregen, indem man Erfahrungen ermöglicht, die bisherige Überzeugungen erschüttern. Man ermöglicht also eine Mini-Krise von innen heraus. Und dann unterstützt man die Person dabei, neue eigene Ziele und Wege zu finden, ohne die Richtung vorzugeben. Man ermutigt also zur geistigen Freiheit. Dafür braucht es ein paar „Zutaten“:

Reflexion – man regt die Lernenden zum Nachdenken an: „Wie nehme ich wahr, was um mich herum passiert? Welche gesellschaftlichen Zwänge und welche Vorurteile prägen mein Denken? Welchen Einfluss, welche Macht, habe ich auf andere? Was ist wichtig, was fehlt mir, und was möchte ich aktiv mitgestalten?“ Man kann transformatives Lernen also als Bildung zur Teilhabe [3], als eine Anregung zur aktiven und konstruktiven Bürgerschaft verstehen. Insofern fördert es die Demokratie und damit die gemeinschaftliche Freiheit.

Ganzheitliche Erfahrungen: Nachhaltiges Lernen beschränkt sich nicht auf Gedanken, sondern auch Emotionen, und wir lernen mit dem ganzen Körper. Das sieht man besonders gut bei Kleinkindern, die ja alles begreifen müssen, um es zu begreifen. In der nachhaltigen Stadtentwicklung wird viel von Experimentierräumen gesprochen: Das sind Orte, wo Menschen Zukunftskonzepte im Kleinen erleben und ausprobieren können (der autofreie Sonntag, ein vertikaler Gemeinschaftsgarten, ein Repair Café mit 3D-Drucker...). Wenn man diesen Ansatz mit der Brille des transformatives Lernens weiterdenkt, schafft man diese Räume so, dass sie die Bürgerinnen und Bürger an den Rand ihrer Komfortzone bringen; dass sie zur kritischen Erfahrung werden können. Und man hat dann natürlich auch Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner, die die emotionalen Reaktionen auffangen und unterstützen können.

Zukunftsvisionen sind in diesen Beispielen auch schon angeklungen. Die haben ebenfalls eine zentrale Rolle im transformativen Lernen. Gerade spielerische Anregungen sind interessant: Je freier wir spielen dürfen, umso mehr müssen wir ja selbst über geeignete, faire Regeln nachdenken. In einem Workshop habe ich z. B. mit Akteurinnen und Akteuren der Stadtentwicklung zu zukünftigen Mensch-Natur-Beziehungen gearbeitet. Sie haben ihre Beziehung zur Stadtnatur reflektiert, indem sie bei einem Spaziergang die Perspektive eines freilebenden Tiers eingenommen haben. Dann haben sie gemeinsam über zukünftige Planungskonzepte gesprochen, die die Bedürfnisse der nicht-menschlichen Welt stärker integriert.

Gemeinsames Lernen: Vielleicht stimmen Sie mir zu, dass man im Austausch mit anderen oft besser über sich selbst und über eigene Erfahrungen nachdenken kann, besonders in einer Krise. Weil das transformatives Lernen üblicherweise in einer Gruppe stattfindet, kann man damit auch Gruppen und Gemeinschaften in der Stadt stärken. Besonders, wenn man auch über Machtverhältnisse in der eigenen Gruppe spricht. Ganz konkret bedeutet das natürlich auch zu überlegen, welche Gruppenzusammensetzung Überzeugungen ins Wanken bringen können. Da hilft natürlich wenig, wenn alle in ihrer Blase bleiben – sondern da begegnen sich Menschen mit ganz verschiedenen Hintergründen. In Amsterdam beginnt gerade ein viele Millionen schweres Projekt, um die Stadt für den Klimawandel zu rüsten. Die haben mit Workshops begonnen, wo sich der Straßenarbeiter mit der Planerin, die Stadträtin mit dem Wissenschaftler und der Theologe mit der Designerin ausgetauscht haben. Und zwar erstmal nicht zum Ziel Klimaanpassung, sondern sie haben sich persönlich über ihre Erfahrungen ausgetauscht, wo sie selbst in ihrem Leben Transformation erlebt haben. Die haben also das Projekt damit gestartet, Vertrauen untereinander aufzubauen – um die Gemeinschaft zu stärken. Das Projekt nennt sich „the coalition of hope“. Welche ungewöhnliche Koalition würden Sie gerne in Regensburg sehen?

Ich möchte nochmal kurz darauf zurückkommen, was ich eingangs erwähnt habe: Dass wir uns bei der Frage, wer transformativ lernen soll, nicht nur die einzelne Bürgerin vorstellen, sondern die vielen Funktions- und Entscheidungsträgerinnen und -träger in der Stadt. Das TL erleichtert eine Grundhaltung, die viel mit gleicher Augenhöhe zu tun hat. Diese Grundhaltung kann vielleicht auch Führungsstile fördern, die die Transformation von Institutionen hin zu mehr Nachhaltigkeit fördert. Das Bewusstsein für die Bedeutung von beidem, gemeinsamen und persönlichen Visionen, und die Reflexion über das, was man tut, kann darüber hinaus auch ändern, wie wir Sitzungen und Projekte gestalten. Es kann helfen, diese lebendiger zu machen. Ich halte das transformative Lernen daher nicht zuletzt auch für einen wertvollen Ansatz in der Personalentwicklung.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, eine Wunderlösung ist das transformative Lernen natürlich nicht: Auch in der breiten Mitte der Gesellschaft wird man damit nicht alle erreichen können. Es ist aus meiner Sicht also eine von mehreren Stellschrauben in der nachhaltigen Entwicklung, die gut zusammenwirken können.

Die Visionen und die Reflexivität sind im Übrigen aus meiner Sicht auch deshalb so elementar, weil Nachhaltigkeit kein eindeutiges und ultimatives Konzept ist. Im Gegenteil ändert sich unser Wissen und unsere Überzeugungen darüber, was einer nachhaltigen Entwicklung entspricht, ja ständig weiter: In der Corona-Pandemie wurde schnell offensichtlich, in welchen Punkten die globalen Nachhaltigkeitsziele oder das lokale Nachhaltigkeitsleitbild Lücken haben. Die Welt ist komplex, und damit bleiben immer Unsicherheiten, mit denen wir alle umgehen können sollten. Das gilt auch für die Zukunft, und das kann man ins Positive wenden: Die Zukunft ist offen! Wenn wir als Stadtgesellschaft diese Offenheit sehen, dann können wir die vielen Freiheitsgrade sehen, die uns bleiben, um die Zukunft gut zu gestalten.

Was macht ein gutes Leben in der Zukunft aus?

Können Sie diese Frage für sich ganz persönlich beantworten? Vielleicht haben Sie am Visionsprozess Regensburg 2040 teilgenommen und dabei eigene Ideen gefunden. Vielleicht beschäftigen Sie sich beruflich viel mit solchen Fragen, dann wird es Ihnen vielleicht etwas leichter fallen, Antworten zu finden. Die Mehrheit der Menschen tut sich schwer damit, überhaupt so nachzudenken – oder es kommen primär Bilder und Ideen, die typischerweise medial vermittelt werden: moderne Architekturen, smarte Verkehrssysteme, mehr Grün [4]  – aber darüber hinaus? Soziale, kulturelle Visionen? Da wird es schon schwieriger.

Möglicherweise haben wir eine Krise der Imagination. Manche argumentieren, dass der Kapitalismus insbesondere die sozialen Visionen unterdrückt, weil technologische Lösungen stärker belohnt werden [5]. Das Credo vom Wettbewerb und die Bedeutung von sozialen Rankings führen auch dazu, gute Ideen eher tendenziell als Eigenkapital sehen, und weniger als mögliches Gemeingut. Um diese Krise der Vorstellungskraft zu überwinden, müssen wir uns erlauben, auch radikal denken zu dürfen. Große Visionen entstehen da, wo man frei Denken darf, ohne gleich die Realisierbarkeitsfrage beantworten zu müssen. Neben Ihrem Leitbildprozess haben Sie hier z.B. mit den Visionsworkshops in MINT Schulklassen schöne Ansätze dazu.

Positive Visionen sind kein Ersatz, sondern eine Antwort auf die dystopischen Zukunftsprognosen, die sich aus den aktuellen Krisen ableiten. Grundsätzlich reagieren wir Menschen schneller und intensiver auf negative als auf positive Reize – das hat uns früher das Überleben gesichert. Sie aktivieren uns. Positive Visionen können dieser Aktivierung eine Richtung geben. Man denkt dann weiter: „Was machen wir denn mit den Flächen, wenn es weniger Autoverkehr gibt? Wie möchte ich die gewonnene Zeit nutzen, wenn mein Quartier besser erreichbar ist?“ Mit Xtopien haben meine Kolleg*innen und ich den Ansatz verfolgt, sich nicht auf naive Heile-Welt-Versprechungen zu beschränken, sondern gleichzeitig die Ambivalenzen herauszuarbeiten, die auch in positiven Visionen stecken [6]:

Meine Utopie könnte ihre Dystopie sein, und das ist ein guter Gesprächsanlass.

Und damit komme ich nun auch zum Ende meiner Rede: Zwischen der Utopie, dem Optimismus, und der Dystopie, dem Pessimismus, liegt Hoffnung. In der Therapie gegen Depressionen arbeitet man damit, Menschen sich daran erinnern zu lassen, was sie in der Vergangenheit alles Positives erreicht haben. Daran können sie sich schlechter erinnern als gesunde Menschen, das ist Teil des Teufelskreises der Hoffnungslosigkeit. Es ist also wichtig, dass wir uns als Gemeinschaft an positive Errungenschaften in der Vergangenheit erinnern und aus diesen Erinnerungen neue Hoffnung zu schöpfen, schwere Ziele in der Zukunft erreichen zu können. Und diejenigen, die diese Hoffnung transportieren, entsprechend wertzuschätzen. Ich bin sehr gespannt auf die Auszeichnungen. Liebe Preisträgerinnen und Preisträger, das ist Ihr Abend!

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Referenzen (beispielhaft)

[1] Peters, O., Scheller, H. & Ruddek, A. (2023). Halbzeitbilanz zur Umsetzung der Agenda 2030 in deutschen Kommunen. Bertelsmann Stiftung.

[2] https://sdg-portal.de

[3] Singer-Brodowski, M. (2016). Transformative Bildung durch transformatives Lernen. Zur Notwendigkeit der erziehungswissenschaftlichen Fundierung einer neuen Idee. Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 39, 13-17.

[4] Jossin, J. (2021): Visionen zur Stadt der Zukunft. Kommunen in der sozial-ökologischen Transformation. Monitor Nachhaltige Kommune – Bericht 2021. Bertelsmann Stiftung.

[5] Haiven, M. (2014). Crises of Imagination, Crises of Power. Capitalism, Creativity and the Commons. ZedBooks.

[6] https://xtopien.org